Ich will Leben wie Otto Normalverbraucher
Mirna Jukic

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Abschiedsinterview: Schwimmerin Mirna Jukic über das frühe Karriere-Ende und warum Hochzeit und Kinder warten müssen.

Das „Palmenhaus“ im Wiener Burggarten erwacht gerade zum Leben an diesem Samstagmorgen. Bäcker liefern duftendes Brot, Köche schütten Ruccola-Berge in Alu-Wannen, die Kaffeemaschinen kommen dampfend in Fahrt. SMS von Mirna Jukic: „Morgen, ich verspäte mich um ein paar Minuten… :-)“
Mit einem Smiley auf ihrem Gesicht huscht Österreichs beste Schwimmerin, in schwarzer Jean mit Diesel-Gürtel und einem schwarzen, amerikanischen Blazer, wenig später herein, platziert ihren Blackberry mit pinker Hülle vor sich auf dem Tisch („Nie mehr I-Phone!“) und bestellt Cafè Latte. Bevor KURIER-Fotograf Kristian Bissuti noch draufdrücken kann, pickt sie schnell Pickerl ihrer Sponsoren Ströck und Sporthilfe aufs Revers. „Jürgen ist schon angekommen“, vermeldet sie beiläufig – von ihrer großen Liebe, Tennisspieler Jürgen Melzer, hat sie genauso viele Autogrammkarten im Terminplaner wie von sich selbst. „Mister Right“ ist gerade in Bangkok gelandet.
Später wird Mirna Jukic drüben am Heldenplatz beim „Tag des Sports“ gute Figur machen und sich, nach dem überraschenden Rücktritt unter Tränen am Donnerstagabend, den Fragen der Journalisten stellen.
Davor sprach die 24-Jährige, in ihrem ganz eigenen, nach Tamburica klingenden Hochdeutsch, im KURIER-Interview über Abschiedsschmerz und Zukunftspläne, ihren wahlkämpfenden Bruder Dinko und warum Hochzeit und Kinder noch „100.000 Jahre“ Zeit haben.

Frau Jukic, haben Sie gestern noch ein bissl nachgeweint?
Freitag war kein leichter Tag für mich. Ich wollte allein sein mit diesem Gefühl: Wie schön war das eigentlich alles, was ich hinter mir gelassen habe? - Ihre braunen Augen füllen sich mit Tränen, die sie schnell wegwischt - Heute geht's mir schon besser.

Warum gehen bei Rücktritten mit den Sportlern so oft die Gefühle durch? Hermann Maier hat auch geweint dabei.
Die Tränen von Hermann Maier hab ich nicht live gesehen, sondern erst später im Internet. Für mich war das sehr schön zu sehen, dass auch ein Mann weinen kann. - Mirna Jukic lacht. Dann wird ihr Blick wieder ganz ernst. - Man muss verstehen: Es ist unser Leben, das wir da zurücklassen. Dieses Leben war 16 Jahre lang ein Teil von mir.

Sie rechnen Ihre Karriere ab 8?
Ja, weil ich mit 7 ½ in Zagreb begonnen habe zu schwimmen.

Zurück zu den Gefühlen. Was ist so traurig?
Etwas zurückzulassen, was man gelebt, was man geliebt hat, was man noch immer liebt. Diese 16 Jahre sind momentan alles, was ich habe. Wenn ich mir aber vorstelle, dass ich vorhabe, 90 zu werden, dann kann ich in meinem Leben noch so viel machen, dann werden diese 16 Jahre nur ein kleiner Teil davon sein. Ich bin ja nicht zurückgetreten, weil ich das Wasser nicht mehr sehen kann.

Sondern?
Weils das Richtige ist. Weil es einfach genug war. Sich damit abzufinden, dass dieser ganze Zirkus jetzt plötzlich weg ist, das ist aber nicht einfach.

So unter dem Motto: Aufhören, wenn's am schönsten ist?
Genau. Ich hab' wirklich so viel erreicht, für mich war's mehr, als ich mir je erträumt hab'.

Ihre sportlichen Erfolge in allen Ehren, aber fehlt Ihnen nicht noch Gold und Silber?
Es fehlt WM- und Olympiagold. Und es ist ein sehr langer Weg dorthin.

London 2012, das sind nur zwei Jahre.
Das war mir nicht Motiv genug. Mir war dieser Weg zu lange. Ich war einfach an meinen Grenzen angekommen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich nicht mehr steigern kann. Ich weiß genau, dass es Mädchen gibt, die besser sind als ich.

Hat Markus Rogan diesen Moment schon verpasst?
Weiß ich nicht. Er holt ja immer wieder Medaillen. Er muss das selber beantworten: Was will er, und wie viel will er dafür opfern? Für mich war diese Frage klar. Ich war nicht mehr bereit, tagtäglich sechs Stunden zu trainieren, um dann vielleicht gar nicht ins Finale zu kommen. Ich wäre sehr haass auf mich gewesen, wenn ich in London versagt hätte. Und wieder Dritte zu werden, das wäre nicht genug gewesen.

Sie wollen jetzt studieren, Ihren Kopf in Bücher tauchen statt in Wasser: Mit welchem Ziel?
In erster Linie will ich einen Abschluss haben, so wie es auch meine Eltern gemacht haben und mein Bruder – ich hoffe, er wird nach mir fertig, er ist schließlich jünger als ich! Um sagen zu können: Okay, Leute, ich bin nicht nur die Schwimmerin Mirna Jukic, ich hab' auch eine Ausbildung gemacht. Ich möchte einen Job, weil ich gut bin und nicht weil ich Mirna Jukic heiße. Aber nicht als Oberboss in einer eigenen Firma mit zehn Angestellten. Ich möchte einfach leben wie Otto Normalerbraucher und mich irgendwo anstellen lassen.

Klingt da die Sehnsucht durch, ins ganz normale Leben einzutauchen?
Ja. Ich habe bis vor einem Jahr sechs Stunden täglich trainiert. Ich habe mich angestrengt. Man braucht als Sportler dann Zeit, sich damit abzufinden, dass man sich nicht nur über den Sport identifiziert. Draufzukommen, dass man noch viel mehr kann.

War das ein schwerer Moment?
Ja, da musst du neue Ziele, neue Herausforderungen haben. Mir ist das immer noch nicht so hundertprozentig bewusst, dass ich nicht nur Schwimmen kann, sondern auch Organisationstalent besitze, mich gut präsentieren kann. Das ist schon in meinen kroatischen Zeugnissen gestanden. Diese Zeugnisse habe ich jetzt wieder gelesen und da wurde mir das bewusst. Das möchte ich jetzt abrufen und auch anwenden.

Ist es nicht ein bisschen abgehoben, mit 24 Jahren zu sagen: Ich hab' schon alles erreicht?
Ich würde sagen: Nein. Denn im Schwimmsport sind 30-jährige Frauen doch die Ausnahme. Mit 15 bis 18 sind Schwimmerinnen meist am erfolgreichsten. Ich hab's bis 24 geschafft, und hab auf den Startlisten schon zu den Älteren gezählt. Darum ist es Zeit, meinen Platz zu räumen. Lieber mit 24 neu anfangen als mit 35 sagen: Okay, das war's jetzt…

Provokant formuliert: Wollen Sie jetzt heiraten, Kinder kriegen und Ihren Mann im Tenniszirkus begleiten?
Nein. Das wäre doch absurd, wenn mein Ziel im Leben ausschließlich wäre zu heiraten und Kinder zu kriegen. Natürlich will ich eines Tages Kinder, wenn der liebe Gott es auch will. Aber mit 24 hab ich doch noch 100.000 Jahre Zeit! Nein, ich möchte fertig studieren, arbeiten. Das war einzig und allein meine Entscheidung, dass ich mir das einfach nicht mehr antun will. Ich wollte nicht, dass ich anfange, diese Sportart zu hassen. Ich wollte noch immer mit einem Lächeln ins Schwimmbad gehen und gerne schwimmen. Ich wollte das coole Verhältnis zum Schwimmen bewahren.

Bestimmt war es nicht immer cool, stimmst?
Ja, das stimmt… Weil Schwimmen eben nicht nur ein bisschen plantschen bedeutet, oder sich zwei Längen vorwärts zu bewegen im Wasser. Leistungsschwimmen ist viel mehr.

Bringen Sie das auch Jürgen Melzer bei?
Mit dem Jürgen sind wir jetzt schon so weit, dass er seine Technik verbessert; seine Wasserlage lässt noch immer zu wünschen übrig. Das Schöne ist: Er hat verstanden, was es heißt, das Wasser zu fühlen.

Stimmt es, dass Leistungsschwimmer stundenlang Kacheln zählen?
In Österreich gibt es ja keine Kacheln. Aber in Kroatien schon, auch in Spanien. Auch ich habe Kacheln gezählt. Je schneller du schwimmst, desto rascher ziehen die Kacheln an dir vorbei, wie ein Film im Schnelldurchgang. Die Kacheln geben irgendwie das Tempo vor.

Sie haben gesagt, dass Ihr Vater war kein Peitschenvater gewesen sei: Aber wird man durch Motivation und Liebe ein Leistungssportlerin?
Zwischen Motivation und Zwang ist oft nur ein kleiner Atemzug. Mirna, hat mein Vater oft gesagt, wenn du da hin willst, dann musst du trainieren, diszipliniert sein, dich mit anderen messen. Es hat oft Tage gegeben, an denen ich geweint habe. Nie hat mein Vater mich an der Hand gepackt und zum Schwimmen gezwungen. Immer hat er versucht mit mir zu reden. Er hat gesagt. Du kannst zuhause bleiben. Aber genau in solchen Momenten, wo du dann trotzdem trainieren gehst, genau in solchen Momenten werden Champions gemacht.

Frau Jukic, haben Sie gestern noch ein bissl nachgeweint?
Mirna Jukic: Freitag war kein leichter Tag für mich. Ich wollte allein sein mit diesem Gefühl: Wie schön war das eigentlich alles, was ich hinter mir gelassen habe? - Ihre braunen Augen füllen sich mit Tränen, die sie schnell wegwischt - Heute geht's mir schon besser.

Welche Rolle wird Disziplin in der Erziehung Ihrer eigenen Kinder einnehmen?
Eine sehr große. Denn das ist das, was mir meine Eltern beigebracht haben: Arbeit, Ordnung, Disziplin. Klare Richtlinien sind sehr wichtig gewesen für mich. Sonst hätte ich es nicht geschafft, neben dem Sport zu studieren. Diese Werte werde ich bestimmt weitergeben.

Welche Beziehung haben Sie heute noch zu Ihrem Heimatland?
Ich war 13 Jahre in Kroatien, und mittlerweile bin ich 11 Jahre hier. Es hält sich langsam die Waage. Ich habe sehr viele Freunde in Kroatien. Wenn ich runterfahre, sage ich: Ich fahre nach Hause. Wenn ich zurück nach Österreich fahre, sage ich auch: Ich fahre nach Hause. Ich glaube, dass mein Vater eines Tages nach Kroatien zurückkehren wird. Ich selber bin ein Weltmensch. Es kann genauso gut sein, dass es mich eines Tages nach Frankreich oder nach Spanien oder nach England verschlägt.

Sie sind 1999 nach Österreich gekommen. Was ist Ihre stärkste Erinnerung an den Krieg?
Das haben die Journalisten immer falsch geschrieben. Ich war fünfeinhalb, wie ich von Vukovar nach Zagreb gekommen bin, auf der Flucht vor einem Mörderkrieg. Aber nach Wien sind wir nur gegangen wegen dem Schwimmen, nicht wegen irgendwelchen Kriegswirren. Was die Erinnerungen betreffen: Ein Bild taucht immer wieder vor meinen Augen auf: Ich am Arm meiner Mutter, so wie mein zweieinhalbjähriger kleiner Bruder, wir sind von einem Hochhaus ins andere vor den Bomben geflohen. Ich hatte so einen gelben Block. Der ist mir aus der Hand gefallen. Da habe ich mich von meiner Mutter weggerissen und bin zurückgelaufen. Meine Mutter sagt immer, das waren die schlimmsten Sekunden ihres Lebens, denn es hätte mich genauso gut eine Granate treffen können. Den gelben Block habe ich ganz viele Jahre lang aufgehoben, wie andere Kinder vielleicht eine Puppe. Wir haben damals sehr viel zurückgelassen: Fotos, Dokumente, alles. Ich habe vielleicht 20 Fotos aus meiner Kindheit.

Wo war Ihr Vater?
So wie alle Männer, er musste kämpfen in der Armee. Mama sagt, wir haben immer gefragt: Wo ist Papa? Sie hat uns immer dasselbe gesagt: Er kommt schon! Ich hatte das Glück, dass mein Vater aus dem Krieg zurückgekommen ist, der Vater meiner Cousine ist bis heute, seit 19 Jahren, vermisst, sie hat ihn niemals kennengelernt.

Geht es Ihnen auf die Nerven, dass Sie immer als positives Beispiel für Integration zitiert werden?
Nein! Denn ich hab' mir echt Mühe gegeben. Ich finde es sehr traurig, dass es immer noch Leute gibt, die finden, ich sollte dahin gehen, wo ich hergekommen bin. Dabei habe ich schon seit zehn Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft. Ich vertrete dieses Land in der Welt positiv und würdig und habe mit meinen Erfolgen einfach ein "Dankeschön" gesagt für diese Chance, die mir Österreich gegeben hat.

Was denken Sie sich, wenn Sie an Straches Plakaten vorbeigehen, der "freie Frauen schützt" und "Wiener Blut" bevorzugt?
Seufzt. – Was da drinnen ist, behalt ich für mich. Ich find's einfach traurig, Menschen auseinanderzudividieren. Jeder soll doch so sein können, wie er möchte. Ich bin aber schon dafür, dass Menschen, die hier leben, auch Deutsch sprechen. Aber ich bin nicht dafür, dass man ihnen verbietet, ihre Kultur zu leben. Positive Integration heißt das Stichwort. Die Hälfte der Österreicher wären nicht da, wenn es nicht Tschechen, Slowaken, Jugoslawen und Türken gegeben hätte. Menschen, die hier ein neues Leben anfangen, denen muss man das doch sehr hoch anrechnen.

Haben Sie Ihrem Bruder, der für die Wiener ÖVP kandidiert, nicht abgeraten?
Er ist 21! Er soll das machen, was ihm Spaß macht. Ich unterstütze ihn dabei, denn er ist mein Bruder. Wenn er irgendwann draufkommt dass es nicht das Richtige war, dann ist es auch okay. Man darf Fehler machen. Aber ich würd's nicht machen.

26. September 2010, erschienen im KURIER