„Die Medien müssen alles berichten”
Paul Lendvai

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Wölkchen am Sommerhimmel wie gemalt, die mächtigen, stolzen Berge, der tintenblaue See. Professor Paul Lendvai, der am 24. August 90 Jahre alt wird, steigt die steinernen Stufen hinunter ans Ufer wie ein junges Reh. „Was liebe ich diese Gegend“, seufzt er bei einem Rundgang und erzählt von seiner ersten Hochzeitsreise, die ihn vor mehr als 50 Jahren durch Zufall ins steirische Salzkammergut geführt hat.

Heute hat der Journalist und Buchautor in Altaussee eine kleine Dachgeschosswohnung mit Blick aufs Wasser und prominenten Nachbarn wie Klaus Maria Brandauer und Hannes Androsch. Dort oben im dritten Stock fand dieses Interview statt, bereichert mit Kommentaren seiner „strengen, geliebten“ Zsoka.

Wir sitzen am Balkon und schauen über den Altausseer See. Was bedeutet dieser Platz für Sie?
Ruhe, Schönheit und Zuversicht. Ich war in Ländern auf der ganzen Welt, aber jedesmal bin ich glücklich, wenn ich nach Wien und hierher, als Wahlsteirer, zurückkehren kann. Es ist mir alles so vertraut, ich kenne jedes Haus hier, die hässlichen und die schönen...

Der 90. Geburtstag wirft seine Schatten voraus. Haben Sie sich 90 so vorgestellt?
Ich war immer niedergeschlagen, wenn ich mir den Neuner vorgestellt habe. Aber auch dankbar, weil ich unverschämt viel Glück hatte in meinem Leben. Dass ich diesen Geburtstag erlebe, noch spazieren kann, mit einer fantastischen, nicht immer leichten Ehefrau ...

Zsoka ruft uns vom Schreibtisch zu, dass sie mithört.

... dass ich noch immer Bücher schreibe und tätig bin, ist eigentlich unglaublich.

Was taucht beim Gedanken an runde Geburtstage auf?
Mit 40 hatte ich ein schönes Auto, aber keine Freundin, ich war nur deprimiert. Beim 60er war ich in der Schweiz und habe mir diese Uhr gekauft. - Greift ans Handgelenk und dreht die Patek Philippe hin und her. - Der 70. wurde schon groß gefeiert, mit Klestil und Schüssel und so weiter. Mein 80er war der schönste Geburtstag, da wurde ein kleiner Film gedreht und es kamen auch Freunde aus dem Ausland. Bis zum Neunzigsten ist es ja noch weit. - Lacht.

Welche Wehwehchen plagen Sie am meisten?
Ich hatte ja 1991 einen Herzinfarkt. Damals holte mich der Hubschrauber direkt aus dem ORF, ich hatte großes Glück, weil ein Defribilator zur Stelle war. Kleiner Vorderwandinfarkt, ich war vier Wochen im AKH und danach auf Kur, ein paar Jahre später bekam ich einen Stent. Seitdem gehöre ich zur Gewerkschaft der Herzpatienten und nehme eine Reihe von Medikamenten. Aber sonst habe ich keine größeren Probleme.

Nur kleinere?
Ja, die Haare werden weniger und die Zähne sind auch weg. Aber Lifting machen wir noch keines! - Lacht. - Und ich brauche dieses Hörgerät. Meine Frau hat es mir befohlen. Ich wusste es eh. Bei der Beerdigung von Gerd Bacher hat Andre Heller eine großartige Rede gehalten und ich habe kein Wort verstanden.

Man hört, Sie laufen noch um den See und zurück. Wie haben Sie sich so frisch gehalten?
Ich laufe nicht, aber ich gehe. Und ich mache Stationen. Für einen Topfenmohnstrudel beim Pauli, es gibt keine besseren. Oder für ein Schnitzel im Wirtshaus vom Mateschitz.

Zsoka: Aber meistens bestellst du Zwiebelrostbraten und Marillenknödel!

Und wie habe ich mich frisch gehalten? Glück! Und ich habe früher jeden Morgen Übungen gemacht.

Zsoka: Vor 40 Jahren!

Das stimmt nicht! Ich habe das sogar in Albanien gemacht. Mindestens 25 Jahre lang. Jetzt mache ich eigentlich nichts mehr.

Ihr Markenzeichen war immer das Ungarische. Der Akzent, das Temperament. Hat man Ihnen nie nahegelegt, an diesem Akzent zu arbeiten?
Nein, denn man kann ihn sowieso nicht auslöschen. Und in Wahrheit war er ein Glücksfall für mich. Hätte ich einen tschechischen, kirgisischen oder russischen Akzent gehabt, wer weiß, ob mir die Leute dann so gerne zugehört hätten. Meine Vorträge habe ich immer mit einem Bonmot eingeleitet. Wenn ein steirischer Bodybuilder und Schauspieler, Arnold Schwarzenegger, Gouverneur des sechstwichtigsten Staates der USA, Englisch mit einem schweren steirischen Akzent spricht, darf ich vielleicht auch mit einem unauslöschlichen Akzent sprechen. Aber dieser Gag ist jetzt weg.

Träumen Sie auf Ungarisch?
Ich träume selten und wenn, dann ganz verrückte Sachen. Ungarisch sind die nicht. Aber seit ich mit Zsoka verheiratet bin - 40 Jahre war ich ja mit einer Engländerin verheiratet und 22 Jahre Korrespondent der „Financial Times“ - lebe ich wieder viel stärker in der ungarischen Sprache. Manche Ausdrücke, zum Beispiel beim Kochen, weiß ich auf Englisch besser als auf Deutsch. Und auf Ungarisch kenne ich mich zum Beispiel mit dem Auto und solchen Dingen überhaupt nicht aus. Aber ich lese Bücher in allen drei Sprachen und ich schreibe auch in drei Sprachen.

Was kann die ungarische Sprache, was Englisch und Deutsch nicht können?
Es ist eine sehr musikalische Sprache, eine sehr reiche Sprache, ideal für das Fluchen, für die Liebe und für Gedichte.

Mit 90 noch am Bildschirm, das ist schon sehr ungewöhnlich. Haben Sie einen lebenslangen ORF-Vertrag?
Ich habe einen Brief. Immer am Jahresanfang bekomme ich einen Brief des Chefredakteurs, unterschrieben vom ORF-Generaldirektor. Da steht, dass sie sich freuen, wenn ich acht Europastudios moderiere. Ich weiß nicht, ob es lebenslang ist. Aber bis Ende 2019 ist es jedenfalls noch.

Denken Sie gar nie ans Aufhören?
Nie. Ich schaue immer in die Zukunft. Weil ich so nicht leben könnte: Nichts mehr machen, nur noch reisen und lesen. Ich bin 1998 offiziell in Pension gegangen, aber ich bin nicht im Ruhestand. Ich schreibe weiterhin jeden Dienstag meine Kolumne, ich mache meine Zeitschrift, „Die Europäische Rundschau“, und ich moderiere das „Europastudio“.

Warum? Sie könnten sich doch auch zurücklehnen.
Vielleicht, weil ich in meiner Jugend so viel versäumt habe, weil ich immer wieder neu anfangen musste. Das war alles kein Spaziergang, sondern eine schwierige Zeit, ein zurückgewonnenes Leben eigentlich. Aber wenn Habermas mit 90 ein eintausend Seiten langes Buch herausbringt und Warren Buffet mit 88 noch 50 Milliarden Dollar betreut, dann bin ich in ganz guter Gesellschaft.

Wie lange soll das noch so weitergehen?
Bis die Leute sagen: „Der ist schon ein Greis, der kann ja gar nicht mehr zusammenhängend reden.“ Oder: „Der hat keine Ideen mehr.“ Vor allem aber, wenn meine Frau mir sagen würde: „Hör auf!“ Sie ist sehr hart. Wenn sie es sagt, dann werde ich aufhören.

Sehen Sie einen Nachfolger?
Politikern wirft man ja gerne vor, dass sie sich nicht um eine Nachfolge kümmern. Ich spazierte mit Kreisky und nichts war für ihn eine größere Genugtuung, als mir von Poldi Gratz und Hannes Androsch zu erzählen. Es war in Wirklichkeit ein Skizzieren, dass er einzigartig ist. Ich habe daran ehrlich gesagt nie gedacht.

Unser verstorbener Herausgeber Hans Dichand meinte einmal, er würde eigentlich am liebsten im Büro sterben und es mache ihm auch gar keine Angst. Wie ist es bei Ihnen?
Ich habe ihn oft besucht. Er hat immer meine Bücher gelesen. Wie möchte ich sterben? Schnell, und ohne vorher krank zu werden. Lieber zu Hause. Elias Canetti ist im Alter von 97 einfach nicht mehr aufgewacht. Ich denke nicht an den Tod, aber so könnte ich es mir vorstellen, ohne Kampf oder lebensverlängernde Maßnahmen.

 

 


 

Herr Lendvai, Sie wurden wegen Ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt, entgingen nur knapp dem Holocaust, Sie wurden interniert, mit Berufsverbot belegt. Kann ein Journalist mit diesen Erfahrungen von einem neutralen Standpunkt aus berichten, mit einer Distanz zu allem und jedem?
Goethe hat geschrieben: „Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen - unparteisch zu sein, aber nicht.“ Deshalb versuche ich, in meiner Arbeit nicht von Emotionen geleitet zu werden, sondern ausgewogen, sachlich, aber unbestechlich Phänomene oder Persönlichkeiten zu beschreiben. Dazu gehört aber auch ein gewisses Engagement. Man kann nicht völlig wertfrei beschreiben, wie Menschen aus politischen oder rassistischen Gründen umgebracht werden. Aber ich analysiere es nicht auf der Grundlage von vorgefassten Meinungen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich werde kritisiert, weil ich über Orban gesagt habe, dass er ein sehr begabter, raffinierter Politiker ist. Das ist aber kein Werturteil, das ist ein Blutbefund. Und dann muss man über die Verfassung, über Medienfreiheit, Korruption und Bereicherung der eigenen Familie sprechen. Man muss aussprechen, was Sache ist. Mein Motto ist ein Zitat von Marx: „De omnibus dubitandum est“ - „an allem zweifeln“.

Sachliches Herzblut?
Das ist schön gesagt. Es rührt mich, aber ich kann es nicht für mich in Anspruch nehmen.

Stichwort Orban. Wie konnte sich, um mit Ihren Worten zu sprechen, ein so begabter Politiker in diese Richtung entwickeln?
„Macht korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.“ (Lord Acton 1834-1902) Darum geht es auch in meinem neuesten Buch. Wenn in einem Land alle Medien in einer Hand sind und man kein kritisches Wort mehr liest, dann stimmt etwas nicht.

Halten Sie so eine Entwicklung in Österreich auch für möglich?
Nicht mehr. Einer der glücklichsten Momente meines Lebens war der 17. Mai, als das Ibiza-Video veröffentlicht wurde.

Glücklicher Moment?
Ich war erschüttert von dieser ungeheuren Selbstentlarvung einer Partei. Ich bewerte nicht, ob es richtig war, was Sebastian Kurz gemacht hat. Aber Ibiza hat einen heilenden Prozess in Gang gesetzt, wie ein Naturwunder. Es ist einfach passiert. Und es hat gezeigt, wie gefährlich Macht ist, wenn Zivilcourage und Opposition und Medien fehlen. Schauen Sie, was in Italien passiert! Was Salvini macht, dieser Taschen-Mussolini mit einem Samsung-Gerät.

Ist es wirklich ein Sittenbild der gesamten Partei, wenn zwei Vertreter sich so verhalten?
Schauen Sie doch die Liederbuch-Affäre an. Es hat mich maßlos gestört, dass man so technisch diskutiert hat. Ob man das jetzt gesungen hat, ob man davon gewusst hat. Für mich reicht es, dass es so etwas noch immer gibt in Österreich. Und es gibt nur eine Partei, in der so unglaubliche Dinge immer wieder passieren. Ich habe zu Hause in meinem Büro 300 Bücher über den Holocaust, ich habe in meinem Buch über Österreich auch über die braunen Flecken in der SPÖ geschrieben. Die Frage ist: Lernt man daraus oder nicht?

Verstehen Sie, dass viele Menschen diese Partei wählen, weil sie mit der Migration nicht mehr klarkommen?
Natürlich verstehe ich das. Ich komme aus einem Land, wo in mehreren Wellen Menschen emigrieren mussten und heute eine halbe Million Menschen außerhalb des Landes arbeiten, viele illegal. Es ist nicht die Frage, ob man diese Wanderung kontrolliert, sondern wie. Man darf Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen eine neue Heimat suchen, auch nicht mit Flüchtlingen verwechseln, die vor Unterdrückung, Krieg, etc. fliehen. Wenn in Deutschland Juden angespuckt werden, dann sagt man, das ist schrecklich, weil es von muslimischen Migranten ausgegangen ist. Aber die schlimmsten Attentate in Deutschland und Amerika wurden zuletzt von Rechtsextremisten begangen. Also das kann man nicht so sauber aufteilen wie in einem Lebensmittelladen.

Ihr neues Buch trägt den Titel „Die verspielte Welt“. Worauf bezieht sich das?
Offen gesagt wollte ich einen anderen Titel. Aber ich habe es dann akzeptiert, weil unsere Welt wirklich gefährdet ist. Ich betrachte die Europäische Union als eine der größten Errungenschaften der modernen europäischen Geschichte, mit allen Fehlern, mit allen Schwächen. Ich kann heute ohne Stopp an der Grenze nach Ungarn oder in die Slowakei fahren, wir müssen kein Geld wechseln, unsere Kinder können in ganz Europa studieren. In Ungarn schimpfen die Orban-Günstlinge über das alles und gleichzeitig schicken sie ihre Kinder an die kostspieligsten europäischen Universitäten. Das ist eine unglaubliche Heuchelei.

Um Ihren Landsmann George Soros ranken sich viele Verschwörungstheorien. Wie gehen Sie damit um?
Ich betrachte Soros als eine der größten Persönlichkeiten unserer Zeit. Er hat sein Geld nicht in Fußballmannschaften oder Starlets gesteckt, sondern mit 34 Milliarden Dollar gemeinnützige Stiftungen gegründet. Immer, wenn in Ungarn etwas schief läuft, greifen sie Soros, den ausländischen Geldgeber, an. Es ist keine jüdische Verschwörung, dass Leute zu uns kommen, es ist ein Weltphänomen. Zur Jahrhundertwende fuhren Zehntausende aus Österreich-Ungarn nach Amerika. Das war auch keine Verschwörung.

Sie waren lange Vorsitzender des Migrationsrates. Was war da Ihre Conclusio?
Österreich braucht qualifizierte Einwanderer. Sie müssen die Möglichkeit haben, zu uns zu kommen. Diese Entwicklung muss die Politik kontrollieren. Asyl ist etwas ganz anderes.

Kommen wir noch zur österreichischen Politik. In Ihrem Buch geht es auch um Macht und Mythos - von Kreisky, Androsch bis hin zu Gusenbauer und Häupl. Warum kommt Kern nicht vor?
Lange Pause. Paul Lendvais Stirn legt sich in Runzeln. Dann sagt er mit fester Stimme: Ich betrachte ihn als den Zerstörer der Reste der österreichischen Sozialdemokratie. Die Art, wie er sich benommen hat, wie er mit der Europawahlkandidatur gespielt hat, wie er seine Nachfolgerin diskreditiert hat. Und dann, während sie verzweifelt kämpft, noch Erklärungen abzugeben, seine Eitelkeit auf Instagram. Ich habe ihn, wie so viele, überschätzt.

Hätten Sie sich 2017 eine türkis-rote Koalition gewünscht?
Ich war immer ein Anhänger der großen Koalition mit einer konstruktiven Opposition. Heute wäre ich schon glücklich, wenn es eine handlungs- und arbeitsfähige Regierung gäbe.

Könnte es das nächste Mal auch wieder Türkis-Blau sein?
Da wäre ich nicht sehr begeistert, nach all diesen Erfahrungen. Ich glaube, dass es zu früh wäre, wieder mit der FPÖ zusammenzugehen. Eine Partei muss aus der Geschichte lernen.

Haben Sie das Buch von Helmut Brandstätter gelesen?
Natürlich.

Hat er recht, dass Kurz und Kickl Antidemokraten sind?
Bei Kurz ist diese Bestandsaufnahme jedenfalls zu früh. Ich kenne ihn seit acht Jahren oberflächlich. Ich leite seit vielen Jahren - eine große Ehre - in Niederösterreich das Europaforum. Da war er auch als junger Staatssekretär. Ich habe mit ihm keine näheren Kontakte gehabt, auch als Außenminister, ich war kein Berater, er hat mich nicht gefragt. Ich habe es immer als Phänomen betrachtet, dass man in diesem Alter das bewältigen kann. Dann war ich beeindruckt von seiner Haltung zum Judentum und Israel. Ich gehöre vielleicht zu jenen, die ihn noch nicht gänzlich abschreiben. Er ist 32 und ich gebe ihm eine Chance. Wie heißt es im Englischen so schön? „The proof of the pudding is in the eating.“ Man wird sehen.

Finden Sie, dass er durch diesen Wahlkampf entzaubert worden ist?
Es ist durchaus möglich, dass dieser Wahlkampf jedem Politiker schadet. Jetzt werden die Karten neu gemischt und was nachher passiert, ist völlig offen. Das Allerwichtigste ist: Die Medien müssen alles berichten.

Was wünscht man sich noch mit 90?
Glück und Gesundheit.

Sonst nichts?
Das ist die Grundlage dafür, dass ich weiter denken kann und mein Leben mit meiner geliebten Frau genießen kann.

Wünschen Sie sich das von einer höheren Macht oder von Gott?
Ich bin Agnostiker, wie Kreisky. Wenn man 1944 erlebt hat, tut mir leid ... Ich respektiere Menschen, die glauben. Aber ich glaube an keine höhere Macht oder den Himmel. Ich versuche, auf der Erde zu bleiben, weiterhin gegen Dummheit, Rassismus, Antisemitismus zu kämpfen, um mehr Verständnis und Toleranz in diesem Land zu werben. Man sieht in den Nachbarländern, wie schnell das gehen kann, wie schnell es sich dreht.

Was soll man einmal über Paul Lendvai sagen?
Er war ein Suchender, ein Zweifelnder, ein tätiger Mann.

11. August 2019, erschienen in der KRONE