Für mich ist genug genug
Donna Leon

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Samstagmorgen im Café Sperl: Donna Leon kommt schon fünf Minuten früher und atmet Wiener Kaffeehausluft ein. "Ich mag diesen Ort, an den Menschen kommen, um einander zu treffen, aber auch um für sich und doch nicht allein zu sein", sagt sie und bestellt ein Schwarzbrot mit Butter und Marillenmarmelade. Dazu ein Glas Wasser, kein Kaffee. "Ich habe heute schon um 6 in der Früh den ersten getrunken. Sonst hebe ich noch ab!" Als die Kellnerin das Brot serviert, rollt sie ihre graugrünen Augen: "Das ist ja schon beschmiert und in kleine Häppchen geschnitten, beinahe wie im Altersheim!"

Die Krimiautorin, die am kommenden Donnerstag ihren 75. Geburtstag feiert, ist mit dem Barockorchester Il Pomo d'Oro, das Sonntagabend im "Theater an der Wien" auftritt, auf Tournee. "Ich folge ihm überall hin", erzählt die Liebhaberin von Barock- und klassischer Musik. Im Oktober wird sie zu den Klängen von Il Pomo d'Oro eine Lesung im Wiener Konzerthaus halten.

Frau Leon, als Sie heute vom Getreidemarkt zur Gumpendorfer Straße gegangen sind, haben die Leute Sie auf der Straße erkannt?
Ja. In Wien ist es nicht wie in Venedig, wo mich kein Mensch kennt (Donna Leons Bücher werden in alle Sprachen, außer in Italienisch, übersetzt, Anm.). Hier kommt oft jemand auf mich zu und sagt: "Ooooh! Sind Sie wirklich Frau Leon?" Die Leute sind immer liebenswürdig und ich empfinde ihre Freundlichkeit als Kompliment. In Berlin, wo ich zwei Freunde "Il viaggio a Reims" von Rossini singen gehört habe, kam eine Frau auf mich zu und sagte: "Ich habe Ihre Bücher nicht gelesen. Aber meiner Mutter haben sie in den letzten Monaten ihres Lebens Trost gespendet." Das hat mich sehr berührt.

Können Sie sich das erklären?
Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass das familiäre Umfeld von Commissario Brunetti ein stabiles, unterstützendes ist. Und mit dem Humor. Es sind die augenzwinkernden, witzigen Stellen in meinen Büchern, die ich am liebsten mag. Ich hatte schon immer ein Faible für das Komödiantische.
Donna Leon lehnt sich zurück und erzählt eine Geschichte von der Beerdigung ihrer irisch-katholischen Mutter, die an Lungenkrebs gestorben ist, weil sie 65 Jahre geraucht hat. Bei der Einäscherung seien sie am akkurat geschnittenen amerikanischen Rasen entlang gegangen, sie habe einen Zigarettenstummel im Gras entdeckt und gerufen: "Schau, sie haben sie wenigstens nicht in den Nichtraucherbereich gesteckt!" Daraufhin hätten ihr Bruder und ihre Schwägerin nicht aufhören können zu lachen, der Pfarrer sei entsetzt gewesen. "Ich habe diesen Moment geliebt. Es war genau richtig, sich mit ihrem eigenen Humor von ihr zu verabschieden."

Im neuesten Krimi ist Commissario Brunetti schon etwas müde. Wie ist es bei Ihnen?
In Brunettis Fall ist nicht sein Alter der Grund. Er kann seinen Beruf nicht mehr ertragen, er hat ein Burnout. Ich liebe meinen Beruf nach wie vor. Manchmal denke ich mir, dass alles nur Glück war. Das Leben als Würfelspiel, und ich hatte auffallend oft eine Sechs.

Sie werden am kommenden Donnerstag unglaubliche 75 Jahre alt. Sind Sie gar nicht altersmüde?
Überhaupt nicht. Ich sehe keinen Grund, mit 75 weniger zu arbeiten, nicht mehr das zu tun, was ich gerne möchte. Das liegt auch daran, dass ich gesund bin. Wenn man älter wird, fängt das ja an mit den Knien, mit den Schultern, den Augen und den Ohren. Bei mir regt sich noch nichts. Ich kann noch immer fünf Stunden lang in den Bergen wandern, einen ganzen Tag lang im Garten arbeiten. Ich gehe jeden Tag mindestens sieben Kilometer.

Sagt Ihnen das Ihre Bewegungs-App?
Nein, denn ich habe kein Mobiltelefon. Ich borge mir eins, wenn ich reise, aber ich möchte keines besitzen.

Wann hat Sie das Älterwerden zum ersten Mal beschäftigt?
Das war ungefähr vor zehn Jahren. Ich wollte den Gartenschlauch aufheben und habe plötzlich gespürt, dass das früher viel leichter ging. Ich musste mich richtig anstrengen. Ich denke, das war der Moment.

Und die Falten und die grauen Haare?
Die sehe ich nicht. Ich könnte mir natürlich das Gesicht liften lassen, so wie viele Frauen in der heutigen Zeit. Alle sprechen von Gleichberechtigung, aber für Frauen gilt das nur, wenn sie sich unters Messer legen. Robert Redford hatte kein Facelifting und George Clooney auch nicht. Aber Schauspielerinnen fühlen sich noch immer verpflichtet, schlank und straff zu sein. Ich habe das als Autorin glücklicherweise nicht nötig. Es ist der Preis, den ich nicht zahlen muss. – Lacht.

Wie alt möchten Sie werden?
Egal, denn ich kann das ja nicht entscheiden. Das entscheidet allein mein Körper. Ich denke aber viel über den Wert von Zeit nach. Ich möchte eigentlich nur noch in meinem Garten arbeiten, auf dem Sofa liegen und lesen. Ich hatte in den letzten Jahren viel zu wenig Zeit dafür.

 

 

Mit 60 haben Sie all ihre schwarzen Socken weggeschmissen. War das ein Statement?
Donna Leon zieht ihr rechtes Bein hoch und zeigt uns ihre knallgelben Socken mit roten Punkten. – Nein, das hatte rein praktische Gründe. Farbige Socken kann man viel leichter sortieren.

Sie sind jetzt nicht mehr so oft in Venedig. Warum?
Die Menschenmassen! Viel zu viele Touristen. Auf 54.000 Einwohner kommen mehr als 30 Millionen Touristen. Wenn ich in Barcelona durch die Menschenmassen spaziere, stört mich das nicht, da bin ich eine von ihnen. Aber in Venedig wollte ich als Einheimische Brot kaufen und war irritiert.

Können Sie Ihre Bücher auch in den Schweizer Bergen schreiben?
Die kann ich überall auf der Welt schreiben. Außer im Sommer bin ich ja auch einmal im Monat für ein paar Tage in Venedig. Dann lese ich noch immer die Zeitungen und verfolge, was sich so tut. Ich habe unlängst daran gedacht, Brunetti nach Neapel oder Palermo zu schicken, denn das sind Städte, die ich auch sehr mag. Ich bin aber noch nicht bereit dazu.

Sie haben Ihre Beziehung zur Romanfigur Brunetti einmal mit einer Ehe verglichen. Ist da lebenslange Treue inkludiert?
Absolut. Ich spüre keinerlei Versuchung, etwas Neues zu erfinden. Mein Schweizer Verlag Diogenes bringt Romane von Ross Macdonald neu heraus, den ich sehr bewundere. Ich habe die Vorworte für vier seiner Bücher geschrieben und beim Nachlesen seiner Krimis habe ich bemerkt, wie sehr mich Ross Macdonald beeinflusst hat. Das war mir bislang nicht bewusst.

Schreiben Sie bereits am nächsten Buch?
Commissario Brunettis 27. Fall ist fertig. Ich habe schon mit dem 28. begonnen. Meine puritanische Disziplin verlangt es, dass ich jedes Buch ein Jahr vor dem Erscheinungstermin abgebe. Dann wird es als Erstes ins Englische, Deutsche und Spanische übersetzt. In Amerika, England, Deutschland und Spanien wird es gleichzeitig publiziert.

Wie viel Zeit benötigt die Recherche, wie viel Zeit das Schreiben?
Das geht Hand in Hand. Da ich am Anfang nie weiß, wie die Geschichte ausgeht, denn das ergibt sich immer während des Schreibens, kann ich auch nicht vorher alles recherchieren. Im Krimi, den ich derzeit schreibe, geht es um Gerechtigkeit und Gesetz, da diskutierten Antigone und Kreon das ganze Buch hindurch über Kaiser Hadrian. Und deshalb musste ich gerade eine Woche lang Philostratus und Pausanias lesen, um mir meine eigene Meinung zu bilden.

Ist es okay, wenn wir über Geld reden?
Ja, klar.

Ihre Bücher haben Sie reich gemacht. Wie finden Sie das?
Absolut großartig. Das ist wunderbar.

Was machen Sie mit dem vielen Geld?
Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass es mehr Spaß macht, Geld herzugeben, als es auszugeben. Der Milliardär Jacob Astor wurde einmal gefragt: Mister Astor, wissen Sie, wie viel genug ist? Er sagte: Ja, ein bisschen mehr. Aber für mich ist genug genug. Soll ich auf meinem Geld schlafen? Essen kann ich es auch nicht. Also gebe ich es weg.

Wem?
Es fließt viel an Organisationen und viel in Musik.

Gibt es trotzdem einen kleinen Luxus, den Sie sich zu Ihrem 75er gönnen?
Wissen Sie, ich möchte einfach nicht mehr so viele Sachen haben. In einem gewissen Alter will man Besitz loswerden, statt sich immer noch mehr zuzulegen. Das ist natürlich ein Problem für meine Freunde, die mir etwas schenken wollen. Das Einzige, das ich tatsächlich noch kaufe, sind Bücher. Aber nicht von Amazon!

Kommt jetzt ein Statement?
Jawohl. Amazon ist ein Monster des pathologischen Kapitalismus. Amazon geht über Leichen. Auch wenn alle kleinen Buchhändler bankrottgehen, denen ist das völlig egal. Also werde ich niemals in welcher Form auch immer zu deren Geschäftspraktiken beitragen.

Sie sind gebürtige Amerikanerin. Wie können Sie mit einem Präsidenten leben, der den Klimawandel leugnet und dem nordkoreanischen Machthaber mit Krieg droht?
Ich habe zwei Amtszeiten von Ronald Reagan überlebt, beide Bush, Richard Nixon, was kann mir da Donald Trump noch anhaben? Er ist nur ein weiterer Republikaner. Man schenkt diesen Leuten viel zu viel Beachtung. Er und Kim Jong Un kommen mir vor wie zwei kleine Buben, die auf dem Spielplatz aufstampfen und schreien: "Ich bin stärker als du!" Ich schäme mich nicht einmal dafür, ich hoffe lediglich, dass Amerika wieder zu Sinnen kommt.

Wie werden Sie Ihren Geburtstag kommende Woche verbringen?
Bei einer Pizza von "Greco" in Neapel. Ein Freund von mir sagt, es sei die beste Pizzeria auf diesem Planeten.

Wenn es einmal zu Ende geht, wäre das Ihre Henkersmahlzeit?
Sehen Sie, ans Essen würde ich niemals denken, wenn ich sterben muss. Ich würde mir eher Gedanken darüber machen, was das Letzte ist, das ich hören möchte. Es wäre sicher eine der Sopran-Arien von Händel. – Denkt lange nach. – Vielleicht "Ombre pallide" - dunkle Schatten, gesungen von Joyce DiDonato. Die wundervolle Arie der Vergänglichkeit.

24. September 2017, erschienen in der KRONE