Ich träume ständig von Thomas Bernhard
Claus Peymann

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Theatermacher Claus Peymann, Leiter des Berliner Ensembles, spricht über Thomas Bernhard, den "Heldenplatz"-Skandal und die Füchse in seinem Garten.

In der Direktion des Berliner Ensembles wartet ein vergnügter Claus Peymann auf den Besuch aus Wien. Aus seinen Augenwinkeln blinzelt dieses Spitzbübische, als er auf dem vordersten der sieben Ledersessel Platz nimmt, die sein Büro dominieren. Nur sieben Sessel und viele Bücher, sonst nichts. Die Kaffeetasse steht neben dem Telefon auf dem Fußboden. Claus Peymann sitzt am andern Ende des Raums, eigentlich weit weg, mehr wie auf einer Bühne.

Herr Peymann, haben Sie die ganze Nacht nicht geschlafen, um sich für dieses Interview ein paar böse Sachen über Österreich auszudenken?
Claus Peymann: Dazu brauche ich keine schlaflose Nacht, das schaffe ich auch aus dem Stand. – Lacht. – Aber meine Stimmung ist gar nicht boshaft gegenüber Österreich. Ich hatte ja meinen Spaß mit den Österreichern. Heute tun zwar alle so, als wenn wir immer schon dicke Freunde gewesen sind. Das war natürlich nicht der Fall. Aber die Zeit heilt die Wunden, auch wenn ich nichts vergesse. 

Zum Beispiel?
Ich wundere mich manchmal über den einen oder anderen Schauspieler, dessen Beschimpfungen ich noch im Ohr habe, der heute mit Bernhard-Texten auf Tournee geht. Aber das ist ja in Österreich immer so. Sie müssen sterben, und kaum sind Sie gestorben, sind Sie schon auf dem Thron.

Hatten Sie schon Sehnsucht nach Wien, dass Sie jetzt Thomas Bernhard inszenieren?
Nein, Sehnsucht hatte ich nicht. Aber es ist eine liebevolle zärtlich literarische Gebärde, dieses Stück, das Thomas Bernhard zu Minettis 80. Geburtstag geschrieben hat, jetzt zu seinem eigenem 80. Geburtstag zu spielen.

Wie muss man sich Ihr Verhältnis zu Thomas Bernhard vorstellen?
Ich glaube, Thomas Bernhard hat viele Jahre lang nur deswegen für das Theater geschrieben, weil er die Schauspieler mochte, die in meinem Ensemble waren. So ist aus dieser zunächst etwas misstrauischen Arbeitsbeziehung irgendwann Freundschaft geworden. Obwohl ich mich frage, ob man mit einem Genie befreundet sein kann. Einem Genie, das sich so kompromisslos nur für die eigene Literatur und für sein eigenes Arbeiten interessierte? Das weiß ich nicht. Wir sind uns wirklich viel, viel näher gekommen, er hat eine fast väterliche Fürsorge für mich gehabt, „Tragen Sie nicht immer diese dünnen Jeans im Winter!“, „Kann Ihre Freundin nicht ein größeres Auto haben, mit diesem lächerlichen Auto sind sie ja schon bei 30 Stundenkilometern beide tot“. Die Fürsorge, die ja auch dann ihre literarische Zuspitzung darin fand, dass er mir sogar eine Hose gekauft hat…

Gibt es diese Hose noch? 
Nein, denn ich hab’ sie nie getragen, weil sie eine braune Glencheck-Scheußlichkeit war. ich habe sie dem Fundus des Burgtheaters geschenkt. Als ich sie später für eine Probe holen lassen wollte, war die Hose nicht mehr da. Also irgendein nichtsahnender, österreichischer Hintern schmückt sich jetzt mit dieser legendären Theaterhose.

Sind Sie mit Thomas Bernhard noch in so etwas wie einem inneren Dialog?
Ich träume ständig von Thomas Bernhard, sicher einmal im Monat. Ich glaube, das nennt man Phantomschmerz. Oder Träume einer Witwe. Es ist immer derselbe Traum. Wir treffen uns zu meiner Überraschung in irgendeinem Beisl wieder, in Oberösterreich oder in Wien. Dort sitzt Bernhard im Kreise einiger Menschen, ich bin völlig verblüfft und sage: „Achso“. Er fleht: „Bitte, nicht meinen Namen sagen!“ und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Dann bin ich unbändig froh und frage: „Sehen wir uns denn Morgen?“ Und er sagt: „Ja, rufen Sie mich nur an!“. Dann wache ich immer auf.

Sie waren bis zuletzt per Sie?
Ja. Ganz im Gegensatz zu seinen Intimfeinden, die heute sagen: „Der Thomas, der war ja so herzig“ und den unzähligen Nachlasshändlern und Devotionalienverkäufer, die eines Tages – nach der Mozartkugel – noch die „Bernhardkugel“ erfinden werden, waren wir zwei bis zuletzt per Sie.

Wäre er selber gern 80 geworden?
Eine hypothetische Frage. Ich glaube bis heute, dass Bernhard um seinen nahen Tod gewusst hat. Am Ende war sein ganzer Körper bis an die Lungen und ans Herz voll von Wasser. Das Wasser war nicht mehr wegzubringen. Dann kam diese Nacht, in der die beiden Brüder, der Arzt Dr. Fabjan und der Dichter Thomas Bernhard, zu einer Entscheidung gekommen sind. Das war dann der Abschied, der Tod.

Das heißt er hat Sterbehilfe bekommen?
Soviel ich weiß, ist der Bruder irgendwann in sein eigenes Appartement gegangen und hat dann den Bruder verständnisvoll alleingelassen. Es ist ein Jammer, dass ein so großartiger Mann so früh sterben musste. Bernhard wollte immer ein Stück über Niki Lauda schreiben, über einen Mann, der sein Leben lang immer im Kreis gefahren ist und plötzlich keine Lust mehr dazu hat. Auch für den wunderbaren, bezaubernden Burgtheater„zwerg“ Fritz Hackl (nicht der Karl-Heinz!) wollte er ein Stück schreiben. Aber das Todesvogerl, wie er es immer genannt hat, saß schon auf seiner Schulter und flüsterte ihm ins Ohr.

Nächsten Samstag hat „Einfach kompliziert“, ein Beinahe-Monolog eines alternden Schauspielers, Premiere. Was sagt uns dieses Stück?
Es ist ein ebenso gewaltiges Stück Theater wie „Der Theatermacher“ oder wie „Heldenplatz“, es ist eine herzbewegende Miniatur. Die Hauptfigur, gespielt von Gert Voss, der alles andere überragt, was in der heutigen Generation der Schauspieler noch auf der Bühne zu sehen ist, verzweifelt - wie der Caribaldi in „Die Macht der Gewohnheit“ oder der Bruscon in „Der Theatermacher“- an seinen eigenen Ansprüchen. Monatelang hat er Lachen geübt, um herauszufinden, wie ein König lacht, monatelang hat er das Husten eines Königs geübt. Perfektion ist das Thema Bernhards, vielleicht auch ein Abbild seiner eigenen Obsession seiner selbst. Der Versuch, mit absolut vollständiger Konsequenz alles in seine Kunst zu investieren.

Zwischen Ihnen und Gert Voss gab es große Feindseligkeiten. Sie haben ihm eine „Mordspension“ vorgeworfen und er hat Sie einen „mittelmäßigen Regisseur“ genannt. Wie muss man sich diese Versöhnung vorstellen?
Ich habe den damaligen Streit mit Amüsement und zugleich mit Wut erlebt. Ich nehme an, Gert Voss ging es genauso. Aber am Theater kann man sich gar nicht so intensiv verfeinden, dass man sich nicht trotzdem wie zwei Kinder in der Sandkiste wiederfindet und wieder zusammen spielt.


Versöhnen Sie sich so leicht, wie Sie sich verkrachen?
Ich bin Zwilling! Wir Zwillinge sind korrupt. Der eine Zwilling ist böse, der andere wirft schon wieder Kusshändchen…

Voss sagt in einem „Profil“-Interview, Sie seien mit 73 noch genauso explosiv und wahnsinnig, wie eh und je. Vergeht das bei Ihnen nie?
Ach, das ist eine Leidenschaft, auch gegen mich selbst. Die Herausforderung, alle Kraft zu mobilisieren, entsteht nicht im ständigen Dasitzen, das braucht starke Bewegung! Ich hänge an dem Traum, das Theater könne die Welt verbessern und verändern. Bei Bernhards „Heldenplatz“ oder Handkes „Publikumsbeschimpfung“ habe ich das ja selbst erlebt. Nach der „Heldenplatz“-Premiere war Österreich nicht mehr das gleiche Land wie vorher –aus dieser Erfahrung beziehe ich meine Hoffnung. 

Brüllen Sie noch immer auf der Bühne?
Ich brülle, wenn die Technik zu laut ist. Ich brülle, wenn jemand geistesfaul ist. Aber das brauche ich Gottseidank bei Gert Voss ja nicht. Gert Voss ist voller Leidenschaft und ein großer Meister, verstehen Sie? – Wie ich übrigens auch! Gelächter.

Welche Bedeutung hat Thomas Bernhard heute in der Kunst?
Überall in der Welt spielen heute die großen Schauspielkünstler Thomas Bernhard. Er ist neben Bertolt Brecht der einzige deutschsprachige Autor, der das geschafft hat. Niemand in Melbourne oder Rio De Janeiro, in Tokyo oder Moskau spielt Schiller oder Büchner oder gar Grillparzer. Aber alle spielen sie Thomas Bernhard und Bertolt Brecht. Die übergroßen Menschenerfindungen Bernhards brauchen erste Schauspieler und erste Regisseure.

Könnte es sein, dass Sie im Lauf der Jahre auch zu einer Thomas Bernhard-Figur geworden sind?
Natürlich bin ich eine Thomas Bernhard-Figur! Ich bin doch der Verrückte, der Theatermacher. Nur ein Dummkopf hat geschrieben, Oskar Werner sei gemeint.

Sie haben bei einer Buchvorstellung gesagt, dass „das Theater seine subversive Kraft verloren hat und sich selbst außer Gefecht setzt“ – Wer müssten denn die neuen Theatermacher sein?
Für die Nachwuchsförderung bin ich nicht zuständig. Ich bin ja kein Fürsorgepapst oder Dieter Bohlen!

Auch kein Mentor?
Hören Sie mir doch auf! Warum sollte ich Mentor sein? Ich habe auch keinen Mentor gehabt. Dieser Förderwahn ist schrecklich! Jeder, der heute eine Seite fehlerfrei niederschreibt, wird gleich als Nachwuchsdramatiker gefördert. Das ist doch völliger Quatsch! Damit können Sie mich jagen… So entsteht nicht Kunst!

Herr Peymann, es ist jetzt fast 25 Jahre her, seit Sie in einem legendären Interview mit André Müller ganz Österreich beleidigt haben. Würden Sie alles noch einmal genau so sagen?
Wenn Sie das heute lesen, dann ist doch eigentlich alles völlig korrekt, was da gesagt wurde – und keine Beleidigung. Bernhard hat damals gesagt „Das Interview ist das einzige, was von Ihnen bleibt“. Hoffentlich hat er nicht Recht! Aber ich lebe nicht aus der Vergangenheit. Was vorbei ist, ist vorbei. Die Burgtheaterzeit war schön, sie war großartig, sie war meine Königsetappe. Schon allein der Länge wegen. Jetzt bin ich hier auf dem sogenannten Altenteil, Berlin ist der Epilog und das ist gut so.

Im Bernhard-Stück wird ja das Alter grausam dargestellt. Wie geht es Ihnen damit?
Zwei, drei Mal die Woche gehe ich joggen, ich gehe ab und zu in die Sauna. Wenn ich die jungen Mädels sehe, weiß ich allerdings, dass ich alt geworden bin. Aber darüber denke ich nicht nach.

Stimmt es, dass Sie bereits einen Friedhofsplatz gekauft haben?
Hier in Berlin gibt es den schönen Dorotheenstädtischen Friedhof. Da liegt die deutsche Geistesblüte. Brecht, Weigel, Heiner Müller, Minetti, Tabori, Hegel und Fichte sind dort begraben. Das wären doch gute Nachbarn. Und da ich nicht Ehrenmitglied des Burgtheaters geworden bin, kommt der Wiener Zentralfriedhof also für mich nicht infrage.

Zwischen welche beiden Künstler wollen Sie gebettet sein?
Ich glaube, das kann man sich nicht aussuchen. Das kostet 7000 Euro…

Pro Jahr?
Pro Tod Lacht. Manchmal, wenn ich ganz traurig bin, gehe ich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof spazieren und halte Zwiesprache mit Brecht und den anderen, die dort alle schon begraben sind.

Apropos Tod: Glauben Sie, dass nach dem Sterben noch was kommen könnte?
Oh, nein. All die schönen und tröstlichen Theorien von der Wiederkehr der Toten – als Blatt oder als Käfer, das Siebenfache Leben, das Aufgehen im Weltgeist oder auf einer Wiese, der Einzug ins Paradies der Christen – all das soll uns Menschen doch nur von der einzig wirklich existenziellen Angst bewahren: der Angst vorm Sterben. Alles ist lächerlich im Angesicht des Todes, sagt Bernhard. Der stinkende, einbalsamierte Leichnam von Lenin im Mausoleum am Roten Platz in Moskau ist wirklich ohne Trost. Der Sozialismus, der mich mein Leben lang fasziniert hat, hat das Mysterium des Todes und den Erlösungsgedanken nicht beachtet. Das ist sein Fehler – und sehr traurig.

Herr Peymann, wie geht’s eigentlich den Füchsen, die bei Ihnen im Garten wohnen, wenn es so kalt ist?
Wenn es so richtig minus 10 Grad hagelt, dann werden die Füchse ganz heiß. Manchmal höre ich Nachts hinterm Zaun gewaltige Schreie, die sich wie Schmerzschreie anhören, aber Lustschreie sind. Diesen Winter hatte ich im Garten übrigens ganz hohen Schnee. Ich bin das erste Mal in meinem kleinen Wald richtig hart Langlaufski gelaufen, ich kam mir schon vor wie in den Tiroler Bergen oder in Schweden.

Kriegen Ihre Füchse noch Kitekat?
Das habe ich denen gefüttert, als ich plötzlich vier kleine Füchse und eine Fuchsmutter im Garten hatte. Als ich es dem Förster erzählt habe, war der entsetzt: „Sind Sie wahnsinnig geworden? Das sind Raubtiere.“ Er sprach von Fuchsbandwürmern und diesen ganzen Hauern. Da habe ich das Kitekat eingestellt. Benjamin, der kleinste Fuchs, saß noch tagelang im Garten und hat jämmerlich geweint. Wahrscheinlich hat er dann den Freitod gesucht.


5. Februar 2011, erschienen im KURIER