In Toronto ist es drei Uhr nachmittags, als Kim Phúc am Mittwoch, dem „World Photo Day“, um 21 Uhr am Festnetz abhebt. „Das ist ein schöner Anlass für ein Interview“, findet sie. Schließlich hat ein Foto des Napalm-Angriffs auf ihr vietnamesisches Dorf am 8. Juni 1972 die heute 57-Jährige weltbekannt und zur Ikone des Vietnamkriegs gemacht. Es wurde ein historisches Dokument und zeigt, wie das Mädchen mit seinen Brüdern und Cousins nackt und schreiend vor Schmerzen vor dem Flammenmeer flieht. „An Österreich habe ich nur die besten Erinnerungen“, erzählt die Weltreisende, die heute in Kanada lebt. Die von ihr ins Leben gerufene Stiftung „The Kim Foundation International“ baut auf der ganzen Welt Schulen, Waisenhäuser und medizinische Einrichtungen für kriegstraumatisierte Kinder.
Welches Bild taucht auf, wenn Sie an den 8. Juni 1972 denken?
Wir hatten uns im Tempel versteckt, weil unsere Eltern erfahren hatten, dass der Krieg unser Dorf erreichen würde. Plötzlich kam ein Soldat und schrie, wir sollten laufen. Ich blieb vor Schock wie angewurzelt stehen, sah Bomben fallen, und dann war überall Feuer. Erst da begann ich zu laufen.
Wann haben Sie das preisgekrönte Foto dann zum ersten Mal gesehen?
14 Monate später, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Mein Vater hatte es aus der Zeitung ausgeschnitten und aufbewahrt. Ich bin sehr erschrocken. Ich dachte mir: Meine Güte! Ich war als Einzige nackt. Ich habe mich geschämt. Als kleines Mädchen mochte ich das Foto überhaupt nicht.
Warum waren Sie nackt und Ihre Brüder und Cousins bekleidet?
Weil die Brandbombe genau auf die Straßenmitte abgeworfen wurde und ich rannte in der Mitte. Das Napalm hat mir die Kleider vom Leib gefressen. Als ich das Feuer auf meinem linken Arm gesehen habe, habe ich versucht, es mit der rechten Hand zu löschen. Ich kann mich noch erinnern, was durch meinen Kopf ging. Ich dachte: Oh Gott! Ich habe so schwere Verbrennungen, nun werde ich hässlich sein … Dann bin ich weinend und schreiend weitergelaufen, ich habe meine Brüder und Cousins neben mir nicht mehr gesehen, nur noch Feuer und Qualm.
Der Kriegsfotograf Nick Út rettete Ihnen damals das Leben. Haben Sie das mitbekommen?
Nein, als ich irgendwann nicht mehr rennen konnte, habe ich angehalten und geschrien: Heiß, heiß! Ein Soldat gab mir Wasser zu trinken und schüttete Wasser über meinen brennenden Körper. Dann bin ich bewusstlos geworden. Was dann passiert ist, kenne ich nur aus Erzählungen. Der Fotograf hat mir später berichtet, dass er mich ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht hat. Dann ging er in die Dunkelkammer, um den Film zu entwickeln.
Woran erinnern Sie sich dann wieder?
Dass Krankenschwestern mich im Morgengrauen abgeholt und ins Brandbad gesetzt haben. Dem Wasser war irgendetwas zugesetzt, das die abgestorbene Haut weich gemacht hat. Die Schwestern haben meine Wunden gereinigt und die alte Haut weggeschnitten. Es tat so furchtbar weh, ich hatte solche Angst, ich habe nur geweint. Wenn ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, bin ich in Ohnmacht gefallen. 80 Prozent meines kleinen Körpers waren verbrannt. Ich war damals schon in einer Spezialklinik für Verbrennungen in Saigon.
Insgesamt 16 Mal. Man dachte nicht, dass ich überleben würde. Richtig bewegen konnte ich mich erst wieder, als ich 1984 in Deutschland ein weiteres Mal operiert wurde. In Miami bekam ich schließlich Laserbehandlungen, um die Spannung der vernarbten Haut zu lindern.
Tut es noch immer weh?
Der Anblick des Fotos ist noch immer schmerzvoll. Aber als ich dann selber Mutter wurde, begann ich, das Foto als wunderbares Geschenk zu sehen. Ich habe mir geschworen, alles dafür zu tun, dass kein Kind mehr so leiden muss, wie ich gelitten habe. Die Narben tun heute nur noch bei starker Berührung weh. Aber sie sehen noch immer furchtbar aus. Als mein Erstgeborener einmal meinen linken Arm sah, hat er die Narbe geküsst und gefragt. „Mama, tut es sehr weh?“ Da musste ich weinen.
Was haben Sie Ihren Kindern über den 8. Juni 1972 erzählt?
Die Wahrheit. Ich habe ihnen erzählt, dass Krieg war, dass im Krieg schreckliche Dinge geschehen, dass ihre Mama sehr gelitten hat, aber dass sie jenen, die verantwortlich sind für das unermessliche Leid, vergeben hat.
Das vietnamesische Regime hat Sie lange Zeit für Propaganda missbraucht. Haben Sie sich mittlerweile mit Ihrem Heimatland versöhnt?
Sie haben mich nach Kuba geschickt, es war eine schreckliche Zeit dort. Aber ich habe meinen Mann kennengelernt. Ich denke mir oft, was hast du nur für ein unglaubliches Leben. Gott muss etwas Spezielles mit mir vorgehabt haben … Ich bin 2004 das erste Mal nach Vietnam zurückgekehrt, zum Begräbnis meines Bruders. 2013 war ich ein zweites Mal dort, weil ich ein Waisenhaus bauen wollte. Aber die Regierung hat zu mir gesagt: „Danke, aber das brauchen wir nicht.“ Es war so traurig. Jetzt wollen wir in Trang Bang, wo der Bombenangriff war, eine Bibliothek für Kinder bauen.
Ihre Stiftung setzt sich für kriegstraumatisierte Kinder ein. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Weil ich weiß, wie es mir gegangen ist. Ich musste so viel Schmerz ertragen, mein Selbstwertgefühl war gleich null, ich dachte, ich würde nie einen Menschen finden, der mich lieben wird. Heute kann ich mich vor die Kinder, die Opfer des Krieges sind, hinstellen und sagen: Schaut, was aus mir geworden ist. Wenn dieses kleine Mädchen mit seinen schweren Verletzungen ein glücklicher Mensch geworden ist, dann könnt ihr das auch. Mein Name bedeutet „Goldenes Glück“ - und es stimmt. Ich kann heute Menschen Liebe, Glaube und Hoffnung vermitteln und so auch zum Frieden beitragen.
Wie vielen Kindern haben Sie mit Ihrem Einsatz schon geholfen?
Sicher vielen Tausenden. Covid-19 ist eine extrem schwierige Situation. Ich kann derzeit nicht reisen, durch Covid-19 stehen die Projekte unserer Stiftung still. Deshalb treffen die Folgen der Pandemie wieder einmal die Schwächsten, nämlich die Kinder. Aber etwas Gutes hatte Corona auch: Ich habe viel Zeit mit meiner 87-jährigen Mutter verbracht. Die letzten Jahrzehnte war ich ja nur unterwegs. Und ich habe seit März auch endlich gelernt zu kochen.
23. August 2020, erschienen in der KRONE