„Die Hoffnung stirbt überhaupt nicht”
Christoph Schönborn

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Im Audienz- Zimmer des Erzbischöflichen Palais in der Wiener Wollzeile brennen fünf Kerzen. Unten auf dem Stephansplatz werden gerade die Gerüste für den Silvesterpfad aufgebaut. Kardinal Christoph Schönborn nimmt vor einem Gemälde Platz, auf dem eine Krippe in kräftigen Blautönen dargestellt ist. Vor ihm auf dem Tisch liegen Lesebrille und iPhone, er trinkt griechischen Cystustee aus einem schwarzen Häferl mit der Aufschrift "reizend". "Damit ist aber der Husten gemeint", betont Seine Eminenz. Während er über Christentum und Islam, die Polarisierung der Gesellschaft und der Kirche und den Abschied vom alten Jahr spricht, umspielt ein gütiges Lächeln seinen Mund.

Herr Kardinal, ein schwieriges Jahr ist zu Ende gegangen. Worum beten Sie für 2017?
Dass wir unseren Alltag nicht besinnungslos abspulen. Sondern uns wieder mehr besinnen. Auf mehr Ruhe, mehr Stille, mehr Nachdenklichkeit. Weniger Schlagworte! Weniger reden und mehr zuhören.

Brexit, Trump, die Endlos- Wahl in Österreich: Wie lautet Ihre Bilanz?
Brexit halte ich für ein Unglück, weil das europäische Miteinander unvergleichlich besser ist als das europäische Gegeneinander, unter dem wir jahrhundertelang gelitten haben. Bei der Wahl in Amerika muss ich ehrlich sagen: Ich weiß nicht, ob Frau Clinton wirklich die bessere Lösung gewesen wäre, und ich weiß auch nicht, ob Mister Trump das große Unglück ist. Man hat auch bei Ronald Reagan den Kopf geschüttelt, als er gewählt wurde: Um Gottes Willen, ein Schauspieler aus Kalifornien! Und Reagan war sicher einer der besten Präsidenten, den die USA je hatten. Man soll also nicht vorschnell urteilen. Das gilt für Trump und das gilt für alles. Was die Wahl in Österreich betrifft, so erwarte ich mir - wie die so beeindruckende Frau Gertrude - von Herrn Van der Bellen schon aufgrund seines Alters Bedachtsamkeit und auch eine gewisse Weisheit.

Es war in diesem abgelaufenen Jahr viel von Polarisierung die Rede. Ist in Wahrheit nicht auch die katholische Kirche polarisiert? In Kernländern des Katholizismus haben offizielle Vertreter der Kirche erklärt, dass sie mit der Einwanderungspolitik ihrer Regierungen ganz und gar nicht einverstanden sind.
Es ist sicher eine Spannung da, eine Bandbreite zwischen Zurückhaltung und Engagement. Dazu muss man wissen, dass die einzelnen Länder auch unterschiedliche Geschichten und deshalb unterschiedliche Erfahrungen haben. Italien ist von seiner geografischen Lage her die Anlaufstelle für inzwischen Hunderttausende von Bootsflüchtlingen. Tschechien wiederum ist ein Binnenland und hat keine Grenzen zu Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen. Dafür hat Tschechien zig Jahre Kommunismus hinter sich und ist traumatisiert von diesen Erfahrungen. In Österreich haben wir in den letzten 40, 50 Jahren gute Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht - Ungarn, Tschechoslowakei 1968, Bosnienkrieg, Ex- Jugoslawien. Wir haben mit sehr viel Großzügigkeit auf die Flüchtlingsnot reagiert, sind aber diesmal wohl überfordert gewesen, weil so viele Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland wollten und eben nicht nach Ungarn oder Tschechien oder nach Polen. Sie wollen nach Österreich. Das spricht für Österreich, macht aber Österreich auch ein Problem. Die Zahlen im vergangenen Jahr waren einfach dramatisch hoch. Inzwischen ist es sehr viel ruhiger geworden. Die entscheidende Frage, vor der wir in Österreich jetzt stehen, ist die Integration der Flüchtlinge.

Waren die gesetzlichen Maßnahmen wie zum Beispiel die Obergrenze richtig?
Ich glaube, das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten, das ist ähnlich wie bei der Mindestsicherung. Die Bundesländer reagieren verschieden. Ich glaube, wir sind hier einfach in einem großen gesellschaftlichen Spannungsfeld, wo es - wie immer im Leben - kein Schwarz oder Weiß gibt. Ein bekannter Bundeskanzler hat gesagt: "Es ist sehr kompliziert", und das ist es wirklich. Da es aber immer um Menschen geht, um Geschichten von Menschen und um Lebensschicksale, wird man einerseits zwar rechtliche Maßnahmen treffen müssen, andererseits soll man in der Anwendung der Regelungen aber flexibel und menschlich bleiben.

Manche Flüchtlinge missbrauchen das Gastrecht, manche werden kriminell. Wo endet Toleranz, Barmherzigkeit, Nächstenliebe?
Da, wo sie auch für österreichische Staatsbürger endet. Kriminalität ist Kriminalität. Und wie bei den Menschen in Österreich gibt es auch unter den Flüchtlingen Menschen, die Missbrauch üben mit den Sozialleistungen. Aber es wäre nicht richtig, von ihnen aus auf alle Flüchtlinge zu schließen. Man sagt ja auch nicht, weil im Wiener Landesgericht derzeit über 1000 Häftlinge sitzen, dass Österreich ein Land von Kriminellen ist. Es gibt Verbrechen von Österreichern und es gibt Verbrechen vonseiten der Flüchtlinge, aber es gibt keinen Unterschied.

Sie haben im September davor gewarnt, dass viele Muslime die Eroberung Europas wollen. Wird der Islam Europa erobern? Und sind wir dabei, unsere christlichen Werte zu verspielen?
Die christlichen Werte richten sich natürlich an uns und nicht an die Muslime. Ich würde so sagen: Die Türkei war einmal zur Gänze christlich, bevor sie von den Türken erobert worden ist. Kleinasien war ein durch und durch christianisiertes Land. Natürlich würde ich mir als Christ wünschen, dass der Nahe Osten wieder christlich wird, wie er es einmal war, oder Nordafrika. Nordafrika war zur Gänze christianisiert. Natürlich wünsche ich mir das, weil ich glaube, dass das Christentum nicht nur meine persönliche Religion ist, sondern eine Religion, die trotz aller Fehler, die geschehen sind, eine gute Religion ist. So kann ich den Muslimen auch nicht verargen, wenn sie sich wünschen, dass Europa islamisch wird. Das ist nicht mein Problem.

Haben Sie keine Angst, dass der Stephansdom einmal zur Stephansmoschee werden könnte?
Natürlich wünsche ich mir, dass der Stephansdom ein lebendiges christliches Gotteshaus, ein Ort des Gebetes bleibt und nicht nur eine Touristenattraktion für fünf Millionen Touristen im Jahr. Aber wir haben in Wien schon jetzt 200 islamische Gebetsstätten. Wir haben in Spanien Moscheen, die Kathedralen geworden sind, und wir haben, etwa in Damaskus, die Kathedrale, in der Johannes der Täufer begraben ist, die jetzt eine Moschee ist, und wir haben in Indien Hindutempel, die früher Moscheen waren, und umgekehrt. Dass Religionen miteinander in Konkurrenz stehen, das ist so alt wie die Welt. Ich freue mich, dass Muslime bei uns ihre Religion frei ausüben können, ich wünsche mir aber auch, dass Christen in Saudi- Arabien oder auch in anderen mehrheitlich islamischen Ländern ihre Religion frei ausüben können.

Was aber nicht der Fall ist.
Obwohl das eigentlich das Mindeste wäre.

Verstehen Sie, dass viele Menschen Sorge vor einer Islamisierung haben?
Wir müssen zurückfragen: Was tut ihr für die Christianisierung Europas? Angst haben vor der Islamisierung Europas ist unsinnig, wenn man nicht selber etwas dazu beiträgt, dass Europa christlich bleibt. Aber natürlich, wenn in Holland eine Kirche nach der anderen verkauft wird und zu einem Supermarkt umgewandelt wird, wenn uns die Supermärkte wichtiger sind als die christlichen Wurzeln Europas, dürfen wir uns nicht wundern, dass Europa sich entchristlicht. Aber es ist nicht die Schuld der Muslime.

 


Wie können wir es verhindern?
Die Frage wird sein, ob wir Österreicher und Europäer wirklich zu den christlichen Werten stehen, die Europa groß gemacht haben, oder ob es uns letztlich wurscht ist. Das beginnt damit: Ist es uns wichtig, dass es einen Religionsunterricht in den Schulen gibt? Ist es uns wichtig, dass die Kirchen nicht nur Museen, sondern Orte des Gebetes sind? Wenn wir sehen, dass die Moscheen gut besucht sind und die Kirchen schlecht besucht sind, dann dürfen wir nicht den Muslimen den Vorwurf machen, dass sie Europa islamisieren wollen. Sondern wir müssen uns den Vorwurf machen, dass wir nicht genug tun, um ein christliches Europa zu erhalten.

Manche muslimische Lebensweisen passen nicht mit unseren Werten und Grundrechten zusammen. Stichwort Ehrenmorde, Zwangsehen, Terrorismus. Ist die Kirche stark genug, um dem zu begegnen?
Das ist zunächst eine Frage an die Zivilgesellschaft. Es gibt sehr wohl Dinge, die mit den Menschenrechten nicht vereinbar sind. Natürlich ist aber auch bei uns früher verheiratet worden. Aber dass es hier gesetzliche Grenzen gibt, dass niemand zur Ehe gezwungen werden darf, das ist eine Eroberung der weltweit gültigen Menschenrechtscharta. Dass Ehrenmorde absolut zu verwerfen sind, ist auch klar. Aber auch bei uns wurde duelliert, das war lange Zeit Kavaliersdelikt und wurde nicht mit Gefängnis geahndet.

Sie wollen sagen, wir sollen nicht immer mit dem Finger auf die anderen zeigen, sondern uns unsere eigene Geschichte anschauen?
Ja, genau. Und auch auf die Geduld setzen, dass Entwicklungen möglich sind. Ich vertraue darauf, dass sich in der islamischen Welt auch etwas ändert, da sehe ich ein großes Potenzial.

Erzbischof Lackner hat gesagt: "Eine Religionsgemeinschaft ist auch für Dinge verantwortlich, die in ihrem Namen passieren."  Würden Sie dem zustimmen?
Ja, unbedingt. So wie die katholische Kirche für den Missbrauch eine kollektive Verantwortung übernehmen musste, gilt das auch für andere Religionsgemeinschaften. Nach dem schrecklichen Anschlag in Kairo, bei dem 23 koptische Christen getötet und über 50 zum Teil schwer verletzt worden sind, hat der oberste Moslem von Ägypten, der Scheich von al- Azhar, sich ganz deutlich distanziert von diesem Terrorakt und gesagt: "Das ist mit unserer Religion nicht vereinbar." Das würden wir uns auch von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in aller Deutlichkeit wünschen, und zum Teil ist es auch geschehen: nicht nur eine klare Distanzierung von Terror, sondern auch die Klarheit darüber, dass das nicht im Namen Gottes geschehen kann.

"Momentan hat der Terror ein islamisches Gesicht" - würden Sie den Satz noch einmal sagen?
Die meisten Terroranschläge der letzten Zeit sind verbunden gewesen mit dem Ruf: "Allah ist groß." Das ist ein Problem. Aber ich sage auch: Religionen sind immer gefährdet, dass in ihrem Namen Terror ausgeübt wird. Denken wir nur an die Protestanten und die Katholiken in Nordirland, die sich gegenseitig umgebracht haben - und das im Namen ihrer Religion.

Herr Kardinal, in Berlin haben Jugendliche am ersten Weihnachtstag versucht, einen Obdachlosen anzuzünden. Haben wir es mit einer Verrohung der Gesellschaft zu tun?
Rohheit in der Gesellschaft hat es leider immer gegeben. Das Gegengewicht kann bei jungen Leuten immer nur gute Erziehung und ordentliche Lebensbedingungen sein. Von der Trostlosigkeit ist der Weg zur Kriminalität, oder zumindest zur Brutalität, vorgezeichnet. Wir haben ein zunehmendes Problem mit Jugendarbeitslosigkeit und der Einkommenssituation der jüngeren Generation. Wenn junge Menschen das Gefühl haben, sie kommen gar nicht hinein in diese Gesellschaft, sie haben keine Chance auf Integration, auf Arbeit, sie haben letztlich "No Future", dann ist das dramatisch und gefährlich.

Verstehen Sie jene, die fordern, kriminelle Migranten sollten abgeschoben werden?
Das kann man nicht generell beurteilen. Man muss immer hinschauen: Wer ist dieser junge Mensch? Was ist seine Lebenssituation? Was sind seine Chancen? Es gibt nicht "die Jugend", und es gibt nicht "die Migranten", sondern das sind alles Menschen. Menschen mit Geschichten.

Sie haben die katholische Kirche aus den Missbrauchsskandalen in ruhigere Gewässer geführt. Was würden Sie am Anfang des Jahres 2017 als größte Herausforderung für die katholische Kirche bezeichnen?
Hoffnung. Es gibt ein wunderschönes Bild von dem französischen Schriftsteller Charles Péguy, der sagt: "Die drei großen Tugenden sind Glaube, Hoffnung, Liebe." Glaube und Liebe, das sind die beiden großen Schwestern, und die Hoffnung ist die kleine Schwester, aber die kleine Schwester zieht die beiden großen Schwestern voran. Die Hoffnung zieht voran. Das hat mich so beeindruckt bei meiner Reise nach Ostern 2016 zu den christlichen Flüchtlingen im Nordirak. Wie viel Hoffnung ich in den fünf großen Flüchtlingslagern mit den aus Mossul und Umgebung vertriebenen Christen gefunden habe. Das gibt Kraft. Ich wehre mich gegen das Wort "Die Hoffnung stirbt zuletzt". Ich sage immer: Nein, die Hoffnung stirbt überhaupt nicht.

"Krisenmanager Gottes", sind Sie das mehr denn je?
Blickt ungläubig und lacht dann. - Das weiß ich nicht. Die Krisen, durch die die katholische Kirche gehen musste, waren so segensreich wie der Weinskandal für Österreichs Weinbauern. Ein "blessing in disguise", wie die Engländer sagen, ein versteckter Segen. Plötzlich hat Österreich sich darauf besonnen, dass Wein auch gut sein kann und dass man in Qualität investieren muss, und jetzt machen wir weltweit Spitzenweine. Ich erwarte mir das von der katholischen Kirche. Wir sind durch schwere Krisen gegangen, aber ich glaube, es war eine Reinigung, aber auch eine Stärkung und ein Ansporn.

Herr Kardinal, Sie waren immer wieder als Papst- Nachfolger im Gespräch. Könnte das noch ein Ziel für Sie sein?
Die Papabile - das sind die, von denen man sagt, sie könnten Papst werden - werden von den Journalisten gemacht. Aber der Papst wird von den Kardinälen gewählt und das ist ein großer Unterschied. Vernünftigerweise haben die Kardinäle - ich war auch daran beteiligt - eine andere Wahl getroffen. Ich denke, auch in Zukunft werden die Papabile nicht die sein, die dann Papst werden.

Hoffen Sie auf einen Papstbesuch in nächster Zeit?
Wir hatten seit 1983 vier Papstbesuche in Österreich, das ist mehr als viele Länder auf der Welt bisher hatten. Papst Franziskus hat eine ganz klare Option, er geht in die armen Länder, zu denen gehört Österreich nicht. Sein erster Besuch in einem europäischen Land war Albanien. Also: eher nein.

Wie feiert ein Kardinal eigentlich Silvester?
Er flüchtet vom Stephansplatz zu Freunden, wo es still ist.

Darf er auch ein bisschen abergläubisch sein?
Als Kinder haben wir Blei gegossen, da kamen immer ganz schräge Figuren heraus. Vierblättrigen Klee habe ich noch nie gefunden. Und von den Glücksfischen, denen man zu Silvester den Kopf abbeißt, habe ich erst durch Sie erfahren. Ich gestehe aber, dass ich gerne um Mitternacht in der Kutte den Donauwalzer getanzt habe, auch noch als Pater. Als Bischof habe ich es noch nicht gemacht.

Wo werden Sie den 1. Jänner 2017 verbringen?
Es ist schon eine liebe Tradition geworden, dass ich am Neujahrstag die Messe in Mariazell feiere. Danach fahre ich nach Vorarlberg zu meiner Mutter. Sie erwartet mich jedes Jahr am 1. Jänner, rüstig wie eh und je. Sie ist ja auch erst 96 ...

01. Jänner 2017, erschienen in der KRONE