Im Geburtstags-Interview auf seiner Kärntner Alm spricht Weltstar Maximilian Schell (80) über seine Kindheit und seine vielen Leben.
Tief verschneit liegt sie da, die Alm, auf der Maximilian Schell schon als kleiner Bub seine Ferien verbracht, auf der Maria Schell bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren gelebt hat, die für ihren „kleinen Bruder“ der vielleicht schönste Platz der Welt ist. „Im Sommer sitze ich manchmal da drüben auf der Bank und danke meinem Urururururgroßvater für diesen heiligen Ort.“ Hier spürt der Filmstar Wurzeln, hier hat er alles, was er mag: Stille, Weite, Wärme. Die Bergwelt zwischen der Steiermark und Kärnten ist seit Generationen Zufluchtsort und Rückzugsgebiet der Familie.
In Stiefeln und einem hellen Daunenmantel stapft Schell durch den Schnee, vorbei am Kirschbaum aus der Dokumentation über seine Schwester, hinauf zu Marias Haus. Seine Sekretärin hat Tomatensuppe gekocht. Schell streut Backerbsen hinein und gießt „Leichte Muh“ dazu. „Lassen wir doch dieses Interview“, meint er fast ärgerlich, „schweigen wir doch einfach!“ Er mag weder Fragen noch Antworten. „Zwei und zwei ist fünf“ sagt er trotzig. „Ich stelle alles im Leben in Frage.“
Die grausilberne Mähne nach hinten gekämmt, einen Seiden- und einen Kashmir-Schal scheinbar achtlos um den Hals drapiert, sitzt er da. Letzter lebender Gigant einer großen Kino-Ära. Hinter ihm ein riesengroßes, wunderschönes Bild von Maria Schell. “Ich habe alles in diesem Haus so gelassen, wie es war, jeden Teller, jedes Glas“, erzählt er, „ihre Aura ist spürbar. Sie schaut mir jeden Moment über die Schulter…“
Die Inhalte seiner Manteltasche wirft er während des Essens einfach auf den Boden, erzählt Anekdoten, erinnert sich an Marlon Brando und Marlene Dietrich, führt Selbstgespräche, schweift ab, fantasiert. „Ich war ja ein Findelkind, meine Mutter hat mich in einem Straßengraben in Wien gefunden“, lacht er und reißt effektvoll seine dunklen Augen auf. „Sie blickte auf wie Charlie Chaplin in „The Kid“, und als keine Reaktion vom Himmel kam, nahm sie mich mit.“ Verwirrung zu stiften bereitet ihm kindliche Freude.
Dass er diesen Mittwoch 80 wird, weniger. „Geburtstage sind etwas Schreckliches. Eigentlich vorweggenommene Begräbnisse.“
Im Interview spricht der Weltbürger mit dem Schweizer Pass über Heimat, denkt über das Leben und den Tod nach, summt dazwischen heitere Melodien und freut sich, wenn sein Enkelkind Lea Magdalena das Köpfchen zur Tür hereinstreckt und mit „Opa Max“ eine Schneehöhle bauen will.
Herr Schell, Sie mögen keine Geburtstage. Darf man Sie trotzdem fragen, was einem so durch den Kopf geht, wenn man 80 wird?
Sie können mich fragen. Nichts!
Nichts?
Dasselbe wie sonst. Ist doch nur ein Datum. Am liebsten würde mich an dem Tag hier oben verkriechen, an meinem Ofen sitzen und rüberschauen zu den Karawanken. Diese Berge, diese Silhouetten und diese Sonnenuntergänge, einfach traumhaft.
Hier schreiben Sie an Ihrer Biografie „Ich fliege über dunkle Täler“. Wie ist es, sein Leben noch einmal Revue passieren zu lassen?
Ich habe viele Leben gelebt. Jetzt lebe ich dieses. Ich rekonstruiere hier alles anhand von Briefen, die ich gesammelt habe. Briefe von meinem Vater, von Hermann Hesse, aber auch von meinen Freunden Friedrich Dürrenmatt, Marlon Brando, Spencer Tracy, Rothko. Auch Zeichnungen und Bilder dienen mir als Fragmente. Da, schauen Sie, das hat Goethe signiert.
Ein Kapitel, auf das Sie besonders stolz sind?
Schön ist die Geschichte über einen Schauspieler, der im Sterben liegt und dem ich Walderdbeeren aus den Wäldern hier geschickt habe. Die hat er noch gegessen, zwei Tage, bevor er gestorben ist. Wenn die Walderdbeeren reif sind, zieht es mich immer hierher. Man kann es kaum erwarten. Und immer muss ich arbeiten zu der Zeit, schrecklich!
Wäre das Ihre Henkersmahlzeit: Kärntnerische Walderdbeeren?
Nein, denn dann würde ich mich ja festlegen, im Juni zu sterben. Ich will mich auf nichts festlegen. Meine Henkersmahlzeit wäre ein Schluck Wasser aus meinem Brunnen.
Apropos Sterben…
Ja?
Angst?
Die Erde existiert schon viele Millionen Jahre, alles ändert sich ununterbrochen und entscheidend, unser Leben ist ein kleiner Augenblick. Da ist das Sterben nicht mehr so wichtig.
Glauben Sie, dass es nachher weitergeht?
Komischerweise ja. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: Gott sei Dank, es ist alles zu Ende. Aber ich fände es interessant, nach dem Tod auf einer höheren Ebene noch Aufschluss über jene Dinge zu bekommen, die man jetzt nicht versteht.
Ist das hier auf der Alm Heimat für Sie?
Heimat … ist nichts Geographisches. – Greift sich an den Kopf, an die Lippen, auf den Bauch. – Heimat ist an vielen Orten. Hier, in der Wüste, in Paris, auch in Los Angeles fand ich es eigentlich sehr schön. L.A. ist eine unterschätzte Stadt, ich habe dort die schönsten Operninszenierungen gemacht, die ich machen konnte. Waren Sie in der Michelangelo-Ausstellung?
Ja.
Die Erschaffung Adams in der sixtinischen Kapelle, das hat sich mir schon als Kind eingeprägt. Gott schwebt über ihm, hat seine Hand ausgestreckt zu Adams Hand, aber die Finger berühren sich nicht, sie sind sich nur unglaublich nahe.
Denken Sie an Ihre Kunstsammlung, während Sie das sagen?
Ich habe den Großteil verkauft, weil Maria nach dem Tod sehr hohe Schulden hinterlassen hatte. Ich musste mich von vielen Bildern trennen, aber ich sagte mir, die Schönheit dieser Bilder bleibt ja dennoch bestehen. Sie sind halt jetzt woanders schön. Und ich habe ja noch immer welche.
Wir sitzen in Maria Schells Wohnzimmer. Ist sie da in diesem Moment?
Natürlich! Spüren Sie nicht ihre Aura? Hier ist alles noch so, wie es immer war. Einmal habe ich ein paar Sachen ins Museum getragen. Aber jetzt sind sie wieder da. Dem Maler Helnwein ist es auf dem Bild hinter mir gelungen, sie richtig einzufangen. Ihren schönen, gütigen Blick. Sie blickt mir jetzt über die Schulter. Helnwein hat auch das Bühnenbild zum „Rosenkavalier“ entworfen. Einfach großartig!
Herr Schell, wie entfachen Sie das Funkeln in Ihren Augen?
Das mache nicht ich, das macht immer das Gegenüber. – Wirft seiner Freundin Iva Mihanovic einen verheißungsvollen Blick zu. – Das entsteht immer durch seinen Betrachter.
Sprechen wir über Hollywood: Wo ist Ihr Oscar?
Mein Oscar wandert. Und wo meine Golden Globes, meine Bambi, meine Romy sind – keine Ahnung! Ich weiß nur noch, dass Paul Newman traurig war. Er war ja auch nominiert. Nach der Verleihung gingen wir in eine Bar und tranken einen.
Stimmt es, dass Sie kein Wort Englisch konnten, als Sie nach Hollywood kamen?
Korrekt. Mein Vater sagte: Lerne lieber Griechisch, das kannst du immer brauchen. Englisch nur, um Shakespeare in der Originalfassung zu lesen.
Sie haben mit Marlon Brando, Sophia Loren, Peter Ustinov gedreht. Was war Ihre beste Rolle?
Sie werden lachen: Der Henry Higgins in „My fair Lady“. Das war ja nicht geschrieben für jemanden, der nicht singen kann.
Und welche Filmrolle?
Ach, ich hatte so viele schlechte Kritiken. Auch die Kritiken über „Das Urteil von Nürnberg“ waren schlecht. Die Kritiker wissen gar nicht, wie viel sie in einem Menschen zerstören.
War das so?
Ja. Ein Pianospieler kann schlecht Klavier spielen, aber immer noch ein guter Mensch sein. Auch bei einem Maler kann man sagen: er malt schrecklich, aber er ist ein toller Kerl. Als Schauspieler ist man sein eigenes Material. Ich hatte in meinem Leben so viele schlechte Kritiken, dass sich die Leute irgendwann gedacht haben: Na, so schlecht kann der doch gar nicht sein!
Was denken sich die Leute heute über Sie?
Ich will Ihnen was erzählen. Ich war einmal eingeladen in eine Berufsschule für Mädchen. Die Direktorin wollte den Kindern was bieten, die waren in einem richtig knackigen Alter und haben dennoch die ganze Zeit ziemlich viel gegähnt. Erst als mich eines der Mädchen fragte, ob es stimme, dass ich der Taufpate von Angelina Jolie sei, umhüllte mich eine rosa Wolke und trug mich mindestens zehn Meter in den Himmel hinauf. Die Mädchen beteten mich fast an! Jetzt wusste ich, warum ich lebte: Ich hatte Angelina Jolie aus der Taufe gehoben!
Eifersüchtig?
Ja. Auch die „Süddeutsche“ hat zum Geburtstag von Maximilian Schell Angelina Jolie aufs Titelblatt gerückt.
Sie waren lange der erste und einzige deutschsprachige Schauspieler, der einen Oscar hatte. Ein Wort zu Christoph Waltz?
Guter Schauspieler. Aber der Film …?
Fühlen Sie sich als Schweizer oder als Österreicher, Herr Schell?
Ich fühle mich der Schweiz verbunden, weil dieses Land eine sehr kluge politische Haltung hat. Ich erinnere mich, dass mein Vater fast jeden Sonntag nach der Kirche abstimmen gegangen ist. Mit 8 Jahren habe ich gelernt, dass ein Bürger mitbestimmen kann. Die österreichische Politik stimmt mich manchmal traurig. Nur eine Parteienpolitik. Aber natürlich bin ich hier zuhause.
Obwohl Ihre Familie nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland in die Schweiz emigrierte?
Ja… . Das Leben hat sich damals total verändert. Es gab keinen Platz für die ganze Familie. Ich kam für ein paar Jahre in ein Waisenhaus, wir schliefen alle in einem großen Schlafsaal. Seit damals liebe ich Einzelzimmer. Später wohnten wir in der Dienerwohnung der Villa Wesendonck. Wissen Sie, wer Mathilde von Wesendonck war? Sie hat Richard Wagner geliebt und ihm Asyl gewährt, und so wohnte ich dort, wo Wagner „Tristan und Isolde“ komponiert hatte.
Gibt es da noch einen Wunsch zum 80. Geburtstag?
Gott, schon wieder dieses Thema. Das, was ich mir wirklich wünsche, krieg’ ich ja doch nicht: Eine Skizze von Mondrian.
Was ist wirklich wichtig im Leben?
Das Jetzt. Der Moment. Oder, wie Goethe es ausdrückte: Die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist ein Punkt, den man gern in seinem Leben erreichen würde.
7. Dezember 2010, erschienen im KURIER