Meine Mutter ist eine politische Gefangene
Jewgenija Timoschenko

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Sie reist um die Welt und kämpft für die Freilassung ihrer Mutter, der inhaftierten ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Am Mittwochabend kam Jewgenija Timoschenko nach Wien. Im Interview mit Conny Bischofberger spricht die 32-Jährige über den Gesundheitszustand ihrer Mutter, Schikanen im Gefängnis und die neueste Hiobsbotschaft, eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord.

98 Duftkerzen leuchten den Weg über die Steintreppen in das Jugendstil-Palais, in dem an diesem Abend Jewgenija Timoschenko erwartet wird. Die Wiener Anwältin Sylvia Freygner hat die Tochter der früheren ukrainischen Premierministerin zu ihrem "Salon Privé" geladen.

Jewgenija Timoschenko kommt aus Stockholm, am Donnerstag fliegt sie bereits wieder nach Kiew, um ihre Mutter im Gefängniskrankenhaus zu besuchen. "Ich hoffe, dass ich genug Kraft haben werde, das alles durchzuziehen", sagt die 32-Jährige im Gespräch mit der "Krone". Sie wirkt müde von ihrem Marathon, aber sehr entschlossen. Es ist ein großer Druck, der auf der zierlichen blonden Frau lastet.

Unsere Russisch-Dolmetscherin Olena begrüßt sie zwar herzlich, will das Interview aber lieber in Englisch führen. Sie hat an der "London School of Economics" studiert und bevorzugt eine Weltsprache für ihre weltweite Kampagne zur Befreiung Julia Timoschenkos.

Frau Timoschenko, wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesehen und wie geht es ihr?
Erst vor einer Woche. Es geht ihr wirklich sehr schlecht, es geht ihr immer schlechter... Sie befindet sich in einem Spital, das aber wie ein Gefängnis geführt ist. Sie wird rund um die Uhr von Kameras überwacht, sogar in dem Besprechungszimmer, in dem wir uns vetraulich treffen sollten, gibt es versteckte Kameras. Familienmitglieder darf sie nur vier Stunden pro Monat empfangen, deshalb gehe ich mit den Anwälten mit.

Leidet sie noch immer an Rückenschmerzen?
Sie kann noch immer nicht gehen. Meistens liegt sie, manchmal bewegt sie sich mit Krücken. Dass sie überhaupt in dieses Spital verlegt wurde, war das Ergebnis eines langwierigen Kampfes, an dessen Ende der Europäische Menschengerichtshof festgestellt hat, dass sie in ärztliche Behandlung gehört. Es brauchte deutsche und kanadische Ärzte, dass meine Mutter überhaupt untersucht wurde. Die ukrainischen Ärzte haben ihr Schmerzmittel und Gehhilfen verweigert.

Sieht sie noch immer aus wie auf den Fotos, die die Welt kennt?
Jewgenija Timoschenko nimmt ein Bild ihrer Mutter in die Hand; während sie es betrachtet, füllen sich ihre Augen mit Tränen. –  Mamula ist sehr dünn geworden. Sie trägt ihre Haare nicht mehr zum Kranz geflochten, sondern offen, so wie ich. Sie ist nicht mehr diese fröhliche Frau... Der Druck, der auf ihr lastet, steht ihr ins Gesicht geschrieben, sie muss Demütigungen und Schikanen ertragen. Nicht nur dass sie unschuldig im Gefängnis sitzt, ihr werden nicht einmal die simpelsten Rechte gewährt.

Wird Ihre Mutter das durchstehen?
Sie bleibt sich auch nach dem Verlust ihrer Freiheit und trotz ständiger Lebensgefahr selbst treu. Ich habe sie gefragt: "Mamula, willst du noch immer in die Politik? Es gibt doch niemanden, der es mit diesem Regime aufnehmen kann!" Sie antwortete: "Gerade das müssen wir ändern." Sie hat ihre politischen Ziele nicht aufgegeben.

Glauben Sie im Ernst, dass Ihre Mutter freikommen wird?
Natürlich glaube ich das. Der Druck der demokratischen Staatengemeinschaft wird immer größer, unsere Berufungen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte laufen. Auch der Report des dänischen Helsinki-Komitees stellt fest, dass es sich bei den Vorgängen in der Ukraine um politische Repression handelt. Meine Mutter ist eine politische Gefangene.

 

Sind alle Vorwürfe, zum Beispiel, dass Julia Timoschenko mit Russland einen Gasvertrag abgeschlossen hat, der ein Wahnsinn für die ukrainische Bevölkerung war, falsch?
Meine Mutter war natürlich eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau nach der Perestroika. Durch Tüchtigkeit, Fleiß und Mut wurde sie Marktführerin im ukrainischen Energiesektor. Dann beschloss sie, Politikerin zu werden, begann gegen Korruption im Energiegeschäft zu kämpfen. Für die Anschuldigungen der Regierung gibt es keine rechtliche Basis. Sie hat niemals ihre Kompetenzen überschritten oder das Gesetz gebrochen. Sie hat diesen Vertrag auch nicht selbst unterschrieben. Der einzige schriftliche Beweis ist eine Kopie mit einem Faksimile ihrer Unterschrift, das hätte jeder dort platzieren können. Die Wahrheit ist, dass die Regierung Janukowitsch meine Mutter politisch isolieren will. Dieser Plan ist bereits zu 50 Prozent aufgegangen.

Aber Ihre Mutter hat die letzten Wahlen gegen Janukowitsch verloren...
Richtig, sie hat um drei Prozentpunkte weniger Stimmen bekommen. Ich weise allerdings auf das Problem der Transparenz und Freiheit der Wahlen in der Ukraine hin. Wir glauben, dass Fälschung dabei eine Rolle gespielt hat.

Wir stehen sechs Wochen vor den Parlamentswahlen in der Ukraine: Als Gefangene darf Ihre Mutter ja nicht kandidieren. Haben Sie je überlegt, an ihre Stelle anzutreten?
Ich wollte niemals Politikerin werden. Meine ganze Anstrengung richtet sich auf die Verteidigung meiner Mutter und letztendlich auch die Verteidigung der Demokratie in der Ukraine. Denn das ist es, wofür meine Mutter steht. Sie ist die wichtigste politische Gegnerin eines Regimes, von dem Menschen unterdrückt und verfolgt werden. Kurz vor den Wahlen hat dieses Regime auch den größten und einzigen unabhängigen Fernsehsender der Ukraine in elf großen Städten verboten.

Wollen Sie behaupten, dass es das alles unter der Amtszeit von Julia Timoschenko nicht gegeben hat?
Natürlich gab es Probleme wie fehlende rechtliche Rahmenbedingungen, Infrastruktur-Probleme, mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte, Bürokratie und natürlich Korruption. Aber was momentan in der Ukraine passiert, ist eine Verschlimmerung des Status Quo, wir entwickeln uns zurück in die 90er-Jahre, die Freiheiten und Rechte der Menschen werden weit mehr eingeschränkt als früher. Die Menschen haben Angst, auf die Straße zu gehen, sie haben Angst, Firmen zu gründen, alles unterliegt einer riesigen Unterdrückungsmaschinerie.

Tut Europa genug, um demokratische Prozesse anzukurbeln?
Seufzt. – Wir haben die Unterstützung der US-Regierung. Meine Mutter hatte auch viel Unterstützung von der österreichischen Regierung, von Bundespräsident Fischer und dem damaligen Kanzler Schüssel. Wenn ich auf meinen Reisen durch Europa politische Spitzen treffe, dann wollen sie alle meine Mutter wieder in der Politik sehen.

Glauben Sie daran?
Wir glauben beide daran, meine Mutter und ich. Eines Tages wird sie wieder das sein, was sie immer war: die starke Frau einer demokratischen Ukraine, die wahre Führerin dieses Landes. Ich glaube, es gibt sonst niemanden, der die post-sowjetischen Machenschaften, unter denen die Ukraine nach 20 Jahren noch immer leidet, so ausmerzen könnte wie sie.

Sind Kandidaten wie Vladimir Klitschko, der bei den Wahlen antritt, ein Hoffnungsschimmer für Sie?
Wir hoffen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht, ein Verbündeter des Regimes zu werden, falls er gewählt werden sollte. In Anbetracht dessen, dass viele führende Oppositionspolitiker illegalerweise ins Gefängnis gesteckt wurden, von Menschenrechtsverletzungen, Bestechung, Druck auf Industrie und Behörden, glaube ich nicht, dass die Opposition wirklich eine Chance haben wird.

Jetzt wurde Ihre Mutter sogar noch wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Vor einem halben Jahr sagte sie zu mir: "Das Einzige, was sie sich noch gegen mich ausdenken können, ist, mich des Mordes zu beschuldigen. Anders weiß ich nicht, wie sie mich so lange einsperren könnten." Und genau das ist passiert. Bald werden sie sie auch wegen des Mordes an Kennedy beschuldigen oder eines Erdbebens.

Frau Timoschenko, was erhoffen Sie sich von Ihrem Wien-Besuch?
Ich bin sehr dankbar für diese Einladung, weil sie mir die Möglichkeit gibt, wichtige politische Botschaften zu verbreiten. Hier geht es nicht nur um meine Mutter, sondern um eine alarmierende Situation in der Ukraine, eine schwere Krise, die das ökonomische und politische Leben in diesem Land lähmt.

Wünschen Sie sich eigentlich manchmal Ihr altes Leben zurück?
Überlegt. – Schwer zu sagen. Meine Mutter war in der Politik, soweit ich zurückdenken kann. Es war immer ein Kampf. Aber so schwer wie in den letzten Monaten war es noch nie. Unsere Familie ist sehr stark, wir geben nicht auf. Aber wir brauchen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Dass wir auf diese Unterstützung vertrauen können, war in Wien wieder deutlich spürbar. Dafür sind wir sehr, sehr dankbar.

14. September 2012, erschienen in der KRONE