
Mit Schockfotos provoziert Starfotograf Olivier Toscani die Werbewelt. Im Interview enthüllt er sein Selbstbild.
Wie  immer hat er auch an diesem Abend provoziert. „Computer machen dumm und blind“,  sagte der Mailänder Fotograf und Artdirector der legendären Benetton-Kampagnen  in den 80er- und 90er-Jahren, als er die Ausstellung „u19 – freestyle  computing“ eröffnete. Damit hatte sich die Ars Electronica einen scharfen  Kritiker eingeladen.
Bei unserem Interview spätnachts an einem kleinen Tischchen im ersten Stock des  Wiener MuseumQuartiers provoziert der 65-Jährige mit seinen dunkelbraunen Augen  und Sätzen, die er nicht alle ernst meinen kann, während er sich an einem  kleinen Bier festhält. Seine Stimme ist ein dunkler Bariton, der sich immer  wieder zornig erhebt. Der Meister selbst ist ganz in Weiß gekleidet und gut  gelaunt. Obwohl sein Flieger zurück nach Italien am nächsten Morgen schon  um sechs Uhr   geht, schaut er kein einziges Mal auf die Uhr.
Signore Toscani, was empfinden Sie für dieses Mädchen,  das mit seinem nackten, ausgemergelten Körper, abgemagert bis auf die Rippen,  für Ihr Plakat posiert?
Ehrlich gesagt, überhaupt nichts. Natürlich ist sie  krank, eine Magersüchtige. Gleichzeitig spiegelt sie unsere Gesellschaft  wieder. Wir sind alle süchtig, auch Sie und ich. Nach Leben, nach Erfolg, nach  Schönheit, nach Anerkennung. Wir leben in einer anorektischen Welt. 
Was  ändern Sie mit solchen verstörenden Bildern?
Ich zeige den Menschen die nackte Wahrheit. Die Vorbilder der Modebranche, von  Anna Wintour (Anm.: Chefredakteurin der amerikanischen Vogue) bis hin  zu den Topmodels, sind doch alle krankhaft. Sie führen den Mädchen absurde  Erfolgsmodelle vor. Das Fernsehen, die Medien haben eine Gesellschaft  geschaffen, die sich selbst nicht mehr liebt und deshalb einen ungeheuren Druck  erzeugt. Verstörend ist, dass wir uns von einem Bild erschüttern lassen – und nicht  von der Realität. 
Sie  bedienen mit Ihren Fotos doch gerade die   Medien.
Ich bin Zeuge der Zeit. Und ich bin sicher, dass sich die Verantwortlichen  einmal in einer Art „Nürnberger Prozess“ dafür rechtfertigen  müssen. Anna Wintour wird in der ersten Reihe  sitzen. Ich hoffe, ich werde das noch erleben: Angeklagter und Ankläger  zugleich zu sein.
Werbung  lebt gewöhnlich von Verführung. Was haben todkranke Aidspatienten, hilflose  Neugeborene und erbarmungswürdige Flüchtlinge, wie Sie sie dargestellt haben,  mit einem Produkt zu tun?
Ich verkaufe keine Produkte. Ich verkaufe eine Betrachtungsweise. Im Fall des  Magermodels Caro - sie hat  übrigens seit  meinen Fotos vier Kilo zugenommen –  ist  es auch das Bild der Frau. Ich meine, zwischen den afghanischen Frauen in ihren  Burkas und den Frauen auf den internationalen Laufstegen in Paris, Mailand oder  New York ist kein so großer Unterschied.
Wie  dürfen wir das verstehen?
Frauen sind Abhängige, Frauen unterwerfen sich, hier und dort. In Afghanistan  symbolisiert die Burka ihr Gefängnis, im Westen sind es ihre dünnen Körper, die  großen aufgespritzten Lippen, die kleinen operierten Näschen, die Prada- und  Gucci-Kleider und die Louis-Vuitton-Täschchen. Da ist nicht viel Unterschied!      
	  
Sagen Sie doch was Provokantes über die Männer.
	    Auch Männer sind heutzutage unter Druck, glauben  genügen zu müssen, werden magersüchtig. Ein  Entrinnen gäbe es nur, wenn man das Fernsehen abschafft. Diese Kampagne würde  ich gerne machen. Vielleicht kann man Berlusconi ja dafür begeistern.
	    
	    Sind  Sie Benetton eigentlich dankbar?
	    Dankbar? Wofür denn?  – Der Meister hebt irritiert seine Augenbrauen.
	    
	    Sie  sind reich und berühmt geworden durch Benetton.
	    Benetton ist durch mich reich und berühmt geworden! Benetton müsste mir dankbar  sein.
	    
	    Wie  reich sind Sie denn?
	    Ich habe wirklich keine Ahnung. Schauen Sie, ich trage jede Menge Kreditkarten  bei mir, aber ich weiß nicht, wie viel Geld auf meinen Konten ist. Das weiß nur  meine Frau. 
	    
	    So  kann wirklich nur einer reden, der  reich  ist.
	    Mich hat Geld – ganz ehrlich! – nie interessiert. Ich habe nie einen Gedanken  daran verschwendet, wie viel ich verdiene, wie viel etwas kostet, wie viel ich  zurücklegen sollte. Ich bin ein sehr bescheidener Mensch, ich brauche für mich  fast gar nichts.
	    
      
 Erinnern  Sie sich noch an Ihr allererstes Foto, Signore Toscani?
	    Sehr gut sogar. Mein Vater war auch Fotograf. Ich hatte zwei Schwestern, neun  und elf Jahre älter als ich, deshalb gab es bei uns zu Hause jede Menge Puppen.  Mein erstes Modell war eine Puppe. Sie hatte, wie sie so dalag, sogar ein  bisschen Ähnlichkeit mit dem Magermodel Caro.
  
  Was  ist in Ihren Augen ein gutes Foto?
	    Ein gutes Foto muss den Moment treffen. Ein gutes Foto kann Geschichte  schreiben, ein gutes Foto verändert mitunter alles. Nehmen Sie nur Che Guevara:  Ohne dieses eine Foto wäre er nie zum Mythos geworden. Und hätte es die  Fotografie schon früher gegeben, wäre Jesus Christus vielleicht nie zum Helden  aufgestiegen und Napoleon so böse wie Hitler rübergekommen. Wir sind alle nur  das, was wir auf unserem Foto sind. Deshalb sollten wir unsere Passfotos ganz  genau betrachten. Sie sind die wahren Schockfotos.
  
  Sie  sind jetzt 65 und arbeiten nur noch sporadisch. Wie verbringen Sie Ihre Tage?
	    Ich versuche jeden Tag, aus den 24 Stunden das Beste zu machen, glücklich zu  sein. Ich bin wunschlos, denn ich habe die beste Frau der Welt, ich habe sechs  wunderbare Kinder, ich lebe in der Toskana mit Pferden und Hunden und Hühnern,  mir fehlt nichts. Ich fliege oft nach Paris, dort fotografiere ich viel, ich  liebe Paris.
  
  Keine Pläne mehr?
	    Ich hatte nie Pläne. Ich bin in keinem Tunnel, also will ich auch nirgendwo  ankommen. Ich warte lieber, was morgen wieder passiert. Und wenn es ein  Flugzeugabsturz ist.
  
  Was  fällt Ihnen dazu ein?
	    Ein Bild natürlich. Oliviero Toscani stürzt ab und ich mache das letzte Foto  von ihm, genau in dem Moment, in dem er sich von dieser Welt verabschiedet. Die  Nachwelt wird es sehr obszön finden, aber es wird das wahrhaftigste  Toscani-Bild zeigen, das man je gesehen hat.
7. Oktober 2007, erschienen im KURIER
  
