Jean Ziegler über die Folgen der weltweiten Preisexplosion und warum die totale Arroganz des Westens schuld ist, dass noch immer alle fünf Sekunden ein Kind auf dieser Welt verhungert.
Er ist gerade  vom Genfer Hauptbahnhof in sein Haus im kleinen Winzerdorf Russin  zurückgekehrt, als wir Jean Ziegler am Telefon erreichen. „Wenn Hungerunruhen  ausbrechen, dann bin ich ein gefragter Mann“, meint er und es tönt ein bisschen  Sarkasmus mit in seiner unverwechselbaren schweizerischen Sprachmelodie.  Der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, der sonst in Länder  reist, die von Hunger betroffen sind, hat diese Woche Medienauftritte in der  Schweiz, in Deutschland, Frankreich und England hinter sich gebracht. „Nur Wien  ist sich zeitlich nicht mehr ausgegangen.“
      Im Interview ist Ziegler schonungslos wie immer. Aber auch selbstkritisch: Das  Millenniumsziel der UNO, bis 2015 die Zahl der Unterernährten zu halbieren, sei  nicht erreicht, im Gegenteil: Erstmals seit Jahren steige die Zahl der  Hungernden wieder an. 
Herr Ziegler,  wir stöhnen alle über die steigenden Lebensmittelpreise, aber für viele  Menschen am andern Ende der Welt bedeuten diese Preissteigerungen den sicheren  Tod. Wie kann es sowas im 21. Jahrhundert geben?
Der Hunger ist leider längst eisige Normalität. Zu dieser Tragödie kommt nun  die Explosion der Agrarrohstoffe – allein Reis ist um 53 Prozent gestiegen.  Aber während ein Haushalt in Wien oder Genf 10 bis 15 Prozent seines Einkommens  für Lebensmittel ausgibt, sind es in Haiti, Simbabwe oder Bangladesch 80 bis 90  Prozent. Diese Menschen können sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten und ernähren  sich mittlerweile von getrocknetem Lehm. Da ist unser Stöhnen über die  Fleischpreise wahrlich ein Luxusproblem.
Wer ist schuld  an diesem Hungerkrieg?
  Es gibt drei Gründe: Erstens die Biotreibstoffe. Allein die USA verbrennen 138  Millionen Tonnen Mais, damit ihre Autos das Klima nicht ganz, sondern nur halb  kaputt machen. Vom Mais, das für einen Tank verbrannt wird, könnte ein  mexikanisches Kind ein Jahr lang essen! Der zweite Grund sind die  Börsenspekulanten, die verstärkt in Agrarrohstoffaktien investieren und so auf  dem Rücken der Verhungernden ihre Profite machen. Der dritte Grund sind die  Agrarexportsubventionen der EU. Es ist die totale Arroganz des Westens, die  schuld ist, dass noch immer alle fünf Sekunden ein Kind auf dieser Welt  verhungert. 
Was haben Sie  da in Ihrer Mission erreicht?
   Höchstens, dass ich diesen Wahnsinn aufzeige, dass bald jeder begreift, dass  Hunger längst kein Schicksal mehr ist, wie Marx noch geglaubt hat, sondern dass  hinter jedem Opfer ein Mörder steht. Das hier ist lautloser Massenmord.
  
  Sie  schrecken vor gewagten Vergleichen nicht zurück.
  Die FAO hat errechnet, dass die Weltlandwirtschaft heute ohne Problem 12  Milliarden Menschen mit 2700 Kalorien pro Tag versorgen könnte. Aber die  Gleichung heißt: Wer Geld hat, isst und lebt. 
  Wer keines  hat, leidet und stirbt. Oder drastischer ausgedrückt: Im Norden wachsen die  Goldberge, im Süden die Leichenberge.
Wenn hinter  jedem Opfer ein Mörder steht, sind wir dann alle Mörder?
  Es geht hier nicht darum, ob der Präsident des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé  ein schlechter und der Jean Ziegler ein guter Mensch ist. Hier geht es um eine  struktu-relle Gewalt. Um eine Globalisierung des Finanzkapitals, das eine  Monopolisierung des Reichtums der Erde nach sich zieht. Die 500 größten  transkontinentalen Privatkonzerne der Welt kontrollieren 52 Prozent des  Bruttosozialprodukts. Diese multinationalen Gesellschaften sind mächtiger als  jeder Papst, jeder Kaiser, es je war. 
Macht Sie das  zornig?
Ja, denn hier  hat eine Horde wild gewordener Börsentrader, Spekulanten und Finanzbanditen  eine Welt der Ungleichheit und des Schreckens errichtet. Denen müssen wir das  Handwerk legen.
Wie soll das  gehen?
      Gegen diese Praktiken formiert sich bereits überall auf der Welt der  organisierte Widerstand. Dafür muss man kämpfen: Dass sich in den  demokratischen Industrienationen des Nordens Bürgerbewegungen und Initiativen bilden,  die ihre Regierung zwingen, den Völkermord des Hungers zu stoppen. 
Wo sind diese  Bürgerbewegungen?
	    Die sind überall: Im Weltsozialforum, in der „Attac“, bei „Greenpeace“, um nur  einige zu nennen; in tausenden von neuen sozialen Zusammenschlüssen. Das sind  alles anständige Menschen, quer durch alle politischen Parteien und  Kirchen, die auf die Straße gehen, weil sie die Privatisierung der Welt nicht  hinnehmen wollen.
Wie wird  dieser Kampf enden, Herr Ziegler?
      Die Welt wird zur Umkehr gezwungen, zumindest ist das meine Hoffnung. Dass die  Fackel jedes getöteten und in seiner Würde verletzten Menschen weitergegeben  wird in die Hände der Lebenden. Der französische Romancier Gilles Perrault hat  diese Bewegung so beschrieben: Völker, dazu verurteilt, die Zinsen für eine  Schuld zu zahlen, deren Kapital ihre Führungsmarionetten ihnen gestohlen haben,  immer zahlreicher werdende Ausgegrenzte, die an den Rändern des Wohlstands  vegetieren müssen, Menschen von tragischer Schwäche, die nicht anders können,  als sich eines Tages zu vereinen. Und an diesem Tag wird die Fackel, die sie  tragen, einen Brand entfachen, der die alte Welt in Schutt und Asche legen  wird.
Halten Sie das  wirklich für möglich?
        Das ist genauso möglich wie die Französische Revolution möglich war.
Was muss  geschehen, damit es nicht so weit kommt?
        Sicher dürfen wir nicht sagen: Wir können nichts tun. Denn das stimmt nicht. Österreich  ist zum Beispiel eine mächtige Stimme in der EU, Österreich könnte gemeinsam  mit den andern Agrarministern das Agrardumping der EU stoppen! Für das Recht  des Menschen auf Glück müssen aber alle Staaten Voraussetzungen schaffen,  wenigstens materielle. Es kann einfach keine Enklaven des Glücks in einer Welt  voller Schmerzen geben. 
Wo haben Sie  zuletzt die „Welt der Schmerzen“ betreten?
        Das war mitten in Europa, an einem prachtvollen Augustmorgen, als die Boeing  der Sabena aus Afrika auf dem Flughafen Brüssel-Zaventem landete. Im  Fahrgestellkasten unserer Maschine wurden die Leichen zweier Jugendlicher aus  Guinea entdeckt, schwarz, ausgedörrt, die Gesichtszüge von Entsetzen verzerrt.  Sie waren wahrscheinlich bei der Zwischenlandung in Conakry ins Innere des  Fahrwerks geklettert. In der Hemdtasche fand der Kontrolleur einen Zettel, auf  dem etwas stand, was mich wirklich zutiefst berührt hat: „Und wenn ihr seht,  dass wir uns geopfert haben und unser Leben aufs Spiel setzen, dann darum, weil  wir in Afrika zu sehr leiden und weil wir euch brauchen, um gegen die Armut zu  kämpfen und dem Krieg in Afrika ein Ende zu machen.“ 
Was haben Sie  sich da vorgenommen?
        Es zu verstehen. . . Ich wusste, dass ich nie mehr, auch nicht zufällig, auf  der Seite der Henker stehen will.
Was war Ihr  eindrucksvollster Moment als Sonderberichterstatter der  UNO-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung?
        Das war in Guatemala, ich stehe mit Maya-Bauern auf dem dürren Hochland, wo es  nur ein paar vertrocknete Maisstauden gibt. Die Kinder haben spindeldürre  Ärmchen und blicken mich aus großen, schönen Augen fragend an. Bei der geringsten  Infektion stirbt so ein Kleiner. Da fällt gleichzeitig der Blick auf die  unglaublich fruchtbare Ebene der Pazifikküste, wo die Bananen- und Kürbisfelder  von Chiquita und Del Monte leuchten, die 68 Prozent des bebaubaren Landes  kontrollieren. 
Was dachten  Sie sich in diesem Moment? 
        Dass für jeden von uns der Tag kommen wird, an dem der Tod uns zur Bilanz  zwingt. An dem wir sagen können: Wir haben wenigstens so viel verändert, dass  mehr Sinn in diese Welt gekommen ist. 
20. April 2008, erschienen im KURIER
  
